Als ich meine Eltern verließ - Roman
letzter Besichtigungen, so lange, bis es nichts mehr zu besichtigen gibt.
Die Ofentür schließt. Als der ZM das Gas aufdreht, klingt es wie ein Aufheulen aus den Tiefen der Hölle. Simons Familie sieht ziemlich mitgenommen aus, als sie aus dem Besucherzimmer zurückkommt. Die Einführung des Toten in die Feuersglut ist ein grauenvoller Moment. Direkt danach folgt das Ritual der Beileidsbekundungen. Eine lange Schlange, gemurmelte Worte, Umarmungen, Küsse, Tränen, viele Tränen. Papa kommt zu dem Schluss, dass Tränen letzten Endes immer ehrlich sind, egal, wie erbärmlich sie Mitleid bekunden. Manchmal ist nicht ganz klar, warum der eine oder andere weint – wegen des Verstorbenen, wegen der Familie, vielleicht auch wegen sich selbst. Ist doch egal, oder? Immer muss er sich in der Abgeschiedenheit von zehntausend Metern Höhe eine philosophische Erklärung zurechtschustern. In dem Fall ist er gar nicht so unkonstruktiv. Ein Toter, eine Zeremonie, ein vorbeiziehender Sarg, da bleibt der Fuß einen Moment lang in der Tür des Unvorstellbaren stecken: Das Leben wird bald wieder weitergehen, als wäre nichts geschehen, aber trotz allem wird man eine Unruhe verspüren, ein Beben, ein Zögern, einen vorbeiziehenden Schatten, vielleicht auch bloß den Schatten eines Schattens. Diese Verwirrtheit ist fruchtbar, menschlich, ein Zeichen von Leben . Es fehlt nicht viel, und Papa kann dem Tod noch etwas abgewinnen.
Aber das wird er sich demnächst zweimal überlegen.
Die vielen Umarmungen ziehen sich ins Endlose, und Papa sinniert in aller Ruhe weiter. Früher – oder »einst«, wie ich immer gesagt habe, als ich klein war, »einst«, über diese ungewollte Formulierung musste er immer lachen. Er dagegen sagt »früher« – wenn er später tüdelig wird, sollte er »seinerzeit« sagen, was den gleichen Effekt hat wie »einst«. Früher also , in meiner Jugend, wenn da die Totenglocken läuteten und ein Trauerzug aus der Kirche kam, blieb man auf der Straße stehen. Die Frauen bekreuzigten sich, und die Männer nahmen den Hut ab. Die Neapolitaner fassen sich angeblich dreimal unauffällig an die Hoden. Das hat ihn verblüfft, und jedes Mal muss er wieder daran denken, zumal er sich gern am Sack kratzt. Ob Demut oder Aberglaube, in jedem Fall hielt das Leben einen Augenblick lang inne. Heutzutage gibt der Tod im Krankenhaus fast kein Zeichen mehr von sich. Im Funerarium minimalstes Tamtam, Trauerfeier am gesichtslosen Stadtrand. Papa stört die Banalisierung des Todes ungemein. Wenn er in der Kirche geheiratet hätte, dann mit lauter Orgelmusik. Für seine Beerdigung bedauert er es beinahe, Atheist zu sein und kein Recht darauf zu haben.
Bist ganz schön altmodisch, Papa.
Im Garten rings um das Krematorium, in dem sich die vielen Freunde nach den Beileidsbekundungen versammeln, kann Papa sich nicht zurückhalten: Er wirft einen Blick nach oben auf den Schornstein; weder fetter Qualm noch irgendein Geruch. Es wird fast zwei Stunden dauern, bis Simon und sein Sarg zu Asche geworden sind. Dann ein plötzlicher Regenschauer. Die Gruppe verzieht sich ins Bistro gegenüber. Trauriges Zuprosten, betretenes Schweigen, Geplärre von Kindern, die keine Lust mehr haben, gedämpfte Stimmen, die Erinnerungen austauschen und einen Witz versuchen. Papa trifft alte Bekannte. »Das ist ja eine Ewigkeit …« usw. Sieben bis acht lange Viertelstunden später kommt der Sargträger mit gebührender Miene herein, in der Hand eine mit dunkelblauem Samt ausgekleidete Pappschachtel. Sie ist noch ganz warm von Simons Asche, als er sie Catherine überreicht. Papa fragt sich, wo die Urne heute Abend ihren Platz finden wird: Im Eingang? Auf dem Nachttisch? Neben dem Fernseher?
Gar nicht so einfach, für den Tod einen Mittelweg zwischen profan und sakral zu finden. Wo wirst du meine Urne in drei Monaten hinstellen, gefüllt mit Asche als Ersatz für mich? Wirst schon noch sehen, wie einfach das ist.
Nach dem Krematorium in Carhaix Treffen in Quimper mit Familie und Freunden. Ich stoße erst dort dazu, zur Party sozusagen – die Vorstellung, der Bestattungsfeier beizuwohnen, hatte mir irgendwie nicht behagt. Simon hat das erste Mal mit Papa zusammengearbeitet, als ich sieben war. Eines Tages schenkte mir Simon sein Briefmarkenalbum, und für eine Weile habe ich die Sammlung fortgesetzt. Ich sammelte leidenschaftlich gern Anstecker, GI Joes, Schlümpfe und eben auch diese Märkchen. Aber ich habe nicht gern Ordnung gehalten. Am Ende tauschte ich
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