Als ich meine Eltern verließ - Roman
Treiben der Lust und der Seele. Ich lebe, weil ich es will. Also sterbe ich auch, weil ich … Selbst in der Wahnvorstellung ist es nicht möglich, den Satz zu beenden.
Schon tausendmal hat sich Papa gefragt, ob es wirklich reines Pech war, das mich in den Tod gerissen hat. Eine bösartige Mikrobe schwirrt zufällig vorbei, und schon bist du tot. Lag es nicht eher daran, dass ich für einen kurzen Augenblick unachtsam gewesen bin? Eine Minute, die ich weniger Lust auf Leben hatte, und zack! Papa hat schon immer geglaubt beziehungsweise mehr oder weniger klare Theorien aufgestellt, dass ein Moment der Achtlosigkeit genügt, und die Todesmächte würden in ihm die Oberhand gewinnen. Eine Sekunde, in der man dem Leben keine Aufmerksamkeit schenkt, und schwupp, alles vorbei. Das ist der Todestrieb, an den er angeblich nicht ernsthaft glaubt, zu dem er aber trotzdem eine Meinung hat: In uns und vor allem in ihm gibt es Triebkräfte, die in der Lage sind, jedes noch so widerstandsfähige Leben zu zerstören. Er hat sich darum gefragt, ob ich nicht auch in jener Zeit meinen eigenen Zerstörungskräften unbewusst, oder sagen wir mehr oder weniger willentlich, die Tür offen stehen gelassen habe.
Jeder Tag seines Lebens ist für Papa wie eine Entscheidung für das Leben, und das, seitdem er denken kann. Woher zweifellos seine Lebenskraft rührt. Jetzt, da ich tot bin, ruft er alle naselang wild entschlossen: »Es lebe das Leben.« Er muss es einfach tun. »Es lebe das Leben! Fiat lux!« Hilft dir das, du alter Spinner? Jeder Todesfall würde somit die Frage aufwerfen, ob man etwas getan oder nicht getan hat, damit er eintritt oder eben nicht. Unser eigener Tod wäre dabei das letzte und im Übrigen unwiderlegbare Beispiel. Sich unentwegt für das Leben entscheiden, tagtäglich diese Entscheidung treffen, dem Teufel ins Gesicht schreien: »Es lebe das Leben.« Bis zu dem Tag, an dem man letztendlich doch verstummt und daran stirbt. Papa schreit ganz allein. Der Termin beim medizinischen Dienst ruft seine gesammelten Wahnvorstellungen wieder auf den Plan. Was ging in meinem Kopf vor, als ich vor drei Wochen nach dem Termin gefragt und mein Leben aufs Spiel gesetzt habe?
Seit ein paar Tagen hatte Papa endlich genau die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, wie befreit von all den Wahnvorstellungen. Freudentränen flossen, als er auf dem Tankanzeiger in meinem Auto sah, dass ich ein paar Stunden vor meinem Tod vollgetankt hatte. Viel Benzin – viele Pläne, nicht wahr? Als einen Beweis für meine Lebenslust deutete er ebenso das Zeitungsabo der Le Monde , das ich erst kürzlich unterschrieben hatte – die erste Ausgabe lag am Tag nach meinem Tod in meinem Briefkasten in Rennes. Ich wollte Le Monde lesen, wollte Leben, Alltag, ich hatte also noch etwas vor auf dieser Welt, oder? Außerdem besaß ich ein Studentenabo bei der Oper von Rennes. Man bestellt keine Abos für Le Monde oder die Oper, man tankt nicht voll, wenn man sterben möchte. Es war der Sensenmann, der mich einfach umgemäht hat, das ist alles, weder Papa noch ich noch irgendwer kann etwas dafür. Der Tod existiert unabhängig von uns; Papa war kurz davor, das zu akzeptieren.
Aber jetzt, krach, bum, wieder alles kaputt. Er hat den Zettel vom medizinischen Dienst endlich ganz durchgelesen. Ich hatte tatsächlich einen Termin bei einer Psychologin – sogar ihr Name steht drauf, man musste nur richtig hinsehen. Nachdem du Stunden über Stunden scheinbar das Lesen verlernt hast, bist du fündig geworden. Hast du möglicherweise die Augen davor verschlossen?
Nächste Frage.
Soll er die Psychologin anrufen, aber warum? Zum Beispiel, um über die Unschlüssigkeit zu leben zu sprechen. Okay … Papa, willst du über meine Unschlüssigkeit zu leben sprechen oder über deine?
Papa dreht sich im Kreis. Blitzschnell sind seine alten Dämonen wieder aufgetaucht, und die Lebenstriebe versagen. Er wird die Psychologin anrufen und sie befragen. Sollte sie etwas über mein Verhältnis zum Leben und zum Tod wissen, wird sie selbstverständlich nichts sagen können, vor allem auf dieser intimen, streng vertraulichen Ebene nicht. Gut, einverstanden, wird sie halt nichts sagen, Berufsethos. Aber wenn er sie nicht anruft, wird es ihn unentwegt beschäftigen. Letzten Endes geht es hier auch um sein Leben. Er beschließt, gleich am nächsten Morgen anzurufen.
Am Abend nach meinem Tod hatte Papa Christine und Jean-Jacques von seinen Wahnvorstellungen erzählt. Sie sind beide
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