Als ich meine Eltern verließ - Roman
Fernsehen verfolgt, jeder für sich, er in Rennes, ich in Douarnenez. Wir liebten Fußball; als Lion klein war, haben wir immer zusammen Spiele angeschaut. Wir sind sogar ins Prinzenparkstadion gegangen und natürlich ins Q-Stadion von Quimper. Gleich nach der Übertragung letzten Montag haben wir zum Hörer gegriffen und das Spiel auseinandergenommen. Arsenal, Manchester, das Spiel, der Schiedsrichter, die Trainer. Diese Engländer spielen echt stilvollen Fußball! Ich lag auf meinem Bett und hatte den Hörstöpsel in der Ohrmuschel stecken. Lion muss in seiner Studentenbude in der Rue Duhamel auf dem Sofa gelegen haben. Wir plauderten und waren schlicht und einfach glücklich. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein kostbares Geschenk es ist, euch jetzt davon erzählen zu können.«
Er dreht sich zu Mama und spricht, als wären sie allein.
»Diese glücklichen Momente, die wir mit ihm erlebt haben … Lion hat gelebt, das ist unvergänglich.«
Sie versuchen, sich von der Unvergänglichkeit des Glücks zu überzeugen. Sie weinen. Auf Zeit achtet längst keiner mehr.
»Seit seiner Geburt haben wir so manche kleine und große schöne Momente wie diese da erlebt. Aber im Laufe der letzten Woche sind wie durch ein Wunder unglaublich viele kleine Glücksmomente zusammengekommen. Ich versichere euch, das reime ich mir nicht im Nachhinein zusammen. Diese alltäglichen Glücksmomente sind nicht lächerlich, es sind nichtige, kaum erzählbare Augenblicke von immenser Wirkung. Ich war ein glücklicher Vater. Heute lässt es einen erschaudern: Lion sollte in fünf Tagen sterben, und ich habe nichts kommen sehen.«
Er kann nicht anders und fügt hinzu: »Er hoffentlich auch nicht. Gott bewahre, dass er etwas geahnt hat.«
Bedrückte Stimmung. Mama und Papa denken an mich, der ich bald eine Woche tot bin. Die Freunde denken alle an sich und daran, wann ihre Stunde schlagen wird.
An jenem Montag war Mama bereits in Rennes angekommen, wo sie mit den Schauspielschülern des Nationaltheaters der Bretagne arbeiten sollte. Sie ergreift das Wort: »Von meinem Hotelzimmer aus konnte ich das Dach des Gebäudes sehen, in dem er seine Studentenwohnung hatte. Als hätten wir nur ein paar Schritte auseinander gewohnt. Diese Nähe rührte mich. Abends sind wir in einem orientalischen Restaurant essen gegangen. Lion erzählte mir, dass er sich für verschiedene Seminare in Musik eingeschrieben hatte und nun ernsthaft am Didgeridoo arbeiten wollte. Darüber war ich sehr glücklich, ich hatte mir so sehr gewünscht, dass er Musik macht. Beim Abschied hat er mich auf der Straße fest in die Arme geschlossen.«
Tränen strömen über Mamas Gesicht, während sie von dem Treffen erzählt. Sie fließen ununterbrochen, was sie jedoch nicht daran hindert, zu sprechen. Papa bestaunt die unvorstellbaren Bande zwischen einer Mutter und ihrem Sohn.
Mama nähert sich unseren Freunden in der vorderen Reihe. Papa folgt ihr, hält ihre Hand. Sie fährt fort: »Es war kalt und neblig, und trotzdem konnten wir uns irgendwie nicht trennen. Am Ende haben wir uns für den übernächsten Tag verabredet, wenn Michel aus Rennes kommen sollte. Dann ist Lion losgelaufen, die Übertragung des Fußballspiels musste jeden Moment beginnen.«
Sie schweigt. Mama und Papa halten sich noch immer an den Händen. Eine Zeit lang rückt mein Sarg wieder in den Vordergrund. Es eilt nichts.
Etwas später. Sie sitzen zu beiden Seiten neben Nicole, die zärtlich die Arme um ihre Schultern gelegt hat. Ein Trio. Jean-Claude spielt Schubert. Er ist extra mit France und Cécile aus Saint-Piat angereist. Er, der es gewohnt ist, auf den schönsten Steinways der Welt zu spielen, hat umstandslos ein elektronisches Piano in sein Auto gepackt, um ihnen seine Musik zu schenken. Moment musical As-Dur , so unglaublich geheimnisvoll und sanft wie nie und heute selbstverständlich auch tragisch. Stille. Tränen.
Noch etwas später. Mama: »Mittwoch waren Michel und ich in Rennes zur Oper verabredet, Athalia von Händel, Daniel B. hatte uns eingeladen. Ich weiß nicht, wie ich es gewagt habe, dass ich Lion vorschlug mitzukommen. Ich hatte den Mut beinahe wieder verloren, aus Angst, eine Abfuhr zu erhalten. Aber anstatt sich wie üblich über unseren altmodischen Hang zu Opern lustig zu machen, sagte Lion zu. Eine schöne Überraschung.«
Und dann wie ein Geständnis: »Ich bin mir sicher, er hätte eine schöne Stimme gehabt. Lion hat zwar nie gesungen, aber ich bin mir ganz
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