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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Anschließend schüttet sie die Asche in ein kleines rotes Säckchen aus Seide. Papa behält so lang wie möglich den Geschmack der trockenen Asche im Mund. Er genießt ihn in vollen Zügen. Noch länger muss er wieder davon husten. Berauscht von ihrem Sohn, lässt Mama das Säckchen in ihre Gürteltasche gleiten, die sie die ganze Reise über nicht aus den Augen lässt. Selbst wenn sie schläft, wird die Tasche unter ihrem Kopfkissen liegen.
    Das andere Döschen bleibt zu Hause. Wir trennen uns nicht vollständig.
    »Und wenn die Zollbeamten fragen, was dieses komische weiße Puder in deiner Tasche sein soll?«
    O Schreck! Doch dann müssen sie lachen.
    Mama und Papa schwingen sich auf nach Island, begleitet von Giloup und Marie-Hélène, den zwei originellsten Masken auf der Party im Dezember. Da es sich um einen Trip in Douarnenez-Manier handelt, gehören derbe Sprüche, Ausgelassenheit und flippige Laune, aber auch liebevolle Gesten unweigerlich dazu, selbst auf einer Trauerreise. Nicht übel.
    Beim Zoll in Orly fragt wegen des Puders niemand nach. Ich habe keinen Geruch mehr für die Hunde.
    Fünf Tage später. In Selfoss angekommen, gerät die vierköpfige bretonische Trauer-Reisegruppe ins Stocken: Soll es an der Südküste Islands weitergehen, oder soll man lieber den Weg durchs Tal ins Landesinnere probieren? Am Meer entlang ist natürlich reizvoll, keine Frage. Irma hat jedoch gesagt, es sei schöner, durchs abwechslungsreiche Landesinnere zu fahren, auf der anderen Seite des Berges: Dort warteten Grotten, Schluchten, Birkenwälder, Blumen und Gletscher. Auch Florence meinte: »In der Gegend bekommt man etwas absolut Einzigartiges zu sehen. Bei Sonnenuntergang, gegen Mitternacht, ist dieses Tal einfach unglaublich.« Wegen der Freunde und da es an diesem Morgen so schön ist, setzen sie, Pech für die Seeleute, auf das Gletschertal und Þormörk – laut Reiseführer »Thorsmörk« ausgesprochen. Sie machen sich also auf in das Land des Gottes Thor. Eventuell werden sie dort meine Asche verstreuen. Das fragen sie sich bei jeder Etappe. Aber jeden Tag, so toll die Landschaft auch ist, schieben sie es ein Stück weiter hinaus.
    Ihr Weg ist nicht von Trauer begleitet. Sie überqueren den Wasserfall Seljalandsfoss mithilfe von Zitaten aus Tim und Struppi – Der Sonnentempel – nur dass die Lamas fehlen. Anschließend gehen sie einmal um den Brunhildenfelsen herum – vor dem Hügel Stóra Dímon ist Mama plötzlich der festen Überzeugung, dass Richard Peduzzi für sein Bühnenbild im Ring des Nibelungen in Bayreuth diese herrliche Bergskulptur kopiert hat, wozu ihr Papa sofort beipflichtet. Mit der Sopranistin vor Augen singen sie den Ritt der Walküren . Es geht weiter mit Wotans Abschied von seiner Tochter. Papa ist tief gerührt.
    Aus der Ferne klingen sie allerdings wie singende Schreihälse – und auf der Seite des Baritons ziemlich schief.
    Durch die Lektüre der Reiseführer waren sie vorgewarnt: Nach dem Verlassen der Nationalstraße 1 auf die Piste 249 müssen sie Ende August damit rechnen, auf Furten zu stoßen, die nicht unbedingt passierbar sind. Mit aller Vorsicht überqueren sie die Hindernisse, in drei Stunden schon acht oder neun Stück. In Island gehören Furten zum Pflichtprogramm. Je nach Wetterlage sind die Pisten jedes Jahr mal mehr, mal weniger überschwemmt. Das kann man nicht vorhersagen. Für einen Vierradantrieb mit viel Power und Bodenfreiheit oder für einen isländischen Bus mit riesigen Reifen kein Problem. Aber für das Auto, das sie sich geliehen haben, in der günstigen Preisklasse, bedeutet es ein ernst zu nehmendes Risiko. Zehn Zentimeter Wasser zu viel, und der Motor geht baden. Spritztour auf eigene Verantwortung und Gefahr: Die Versicherung zahlt nichts. Am Ende dieses Vormittags versperrt ihnen die bislang tiefste Furt ihrer Reise den Weg. Ein Wagen mit Vierradantrieb hat bereits Schiffbruch erlitten und ist mittendrin liegen geblieben. Die junge Fahrerin und ihr Begleiter sind gezwungen, das Auto stehen zu lassen. Wir beobachten, wie sie nicht gerade trockenen Fußes zurückkommen. Schuhe und ein paar Kleidungsstücke in die Luft haltend waten sie irgendwie durch das eiskalte Wasser, das ihnen bis zur Brust reicht. Auto und Ausflug sind im Eimer. Das Pärchen wird wohl oder übel auf einen Abschleppwagen warten müssen.
    Dort entlangzufahren war also nicht ratsam. Ihr macht kehrt und fahrt drei- oder vierhundert Meter zurück auf einen kleinen Pfad Richtung Süden, wo

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