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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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nehmen, als Lions Körper noch ganz warm war. Und auch der, der mich ermunterte, auf dem Friedhof Fotos zu machen. Warum auch nicht? Gute, teuflische Eingebungen. Welch ein Glück, dass sie vorbeigekommen sind und mir geholfen haben, Erinnerungsfotos zu machen. Es leben meine Teufel!
    Genau, Papa.
    Eine Woche später, Ende August 2004. Zurück in Douarnenez überspielt Papa die Fotos auf den Computer. Der Geschichte wird ein neues Album hinzugefügt. Nach Lion Vincennes 1982–1994 , nach Lion Quimper – Douarnenez 1995–2003 und nach den bläulich-violetten Bildern, die aus den Tiefen der Leichenhalle in das namenlose Album aufgestiegen sind, das niemand je zu sehen bekommen hat, erstellt er nun das Album Lion Island 2004 . Die Fotos werden nach Etappen sortiert: die Anreise, die Furten, die Gletscher, die Asche, E. T., die Lagune, Giloup, der aus dem Wasser steigt, erneut der See, die Kammlinie des Vulkans …
    Fast jeden Tag lässt du gebetsmühlenartig die Diashow ablaufen – ohne Begleitmusik, kommt nicht infrage! Häufig kehrst du zu den Fotos des kleinen E. T. aus Steinen und mit weißem Schal zurück. Und zu der grün-blauen Lagune, der allgegenwärtigen Asche und dem Vulkankrater, der alles überragt. Mama ist bei dir. Dank der elektronischen Bilder fließen die Tränen immer wieder neu. Ihr braucht die Fotos, sowohl auf dem Bildschirm als auch ausgedruckt: als Bildtafeln, Großformate, in Postkartengröße … Wenn Freunde bei euch sind, erzählt ihr, gestützt von den Fotos und ohne es je leid zu werden, von der Reise. Unzählige Male berichtet ihr von der unglaublichen Verkettung von Zufällen, die euch dorthin geführt hat: die übereilte Entscheidung für die Feuerbestattung, die zu Hause in Sicherheit gebrachte Asche, Bérangères Erzählungen, meine isländischen Träumereien, die unerwartete Umkehr vor der Furt, das unverhoffte Ritual. Alles ist jetzt abgeschlossen. Ihr habt einen guten Blickwinkel gefunden, von dem aus ihr über euren toten Sohn sprechen könnt: die Zufälle und das Unvorhersehbare. Von der hagiografischen Darstellungsweise seid ihr damit befreit – der heilige Lion, »wie schön er war, wie großartig, wie vollkommen«. Dem Dolorismus seid ihr ebenso entkommen – »welch schweres Leid wir ertragen müssen, nichts wird unseren Sohn ersetzen können, wir sind untröstlich, der größte Schmerz, der Eltern widerfahren kann, eine wahrhafte Amputation …« Mit Freude erspart ihr euch all das, was man von trauernden Eltern erwartet. Die Flut der Zufälle, die ihr erlebt habt, bietet euch Fluchtpunkte, die euch vor Klischees bewahren. Euer Bericht ist voll willkommener Magie. Sprachlos und voller Entzücken hören sich die Freunde die schöne Geschichte an, in die sich eure Trauer verwandelt hat.
    Sie vergöttern die Fotos, wenngleich es sachlich gesehen nichts Besonderes auf ihnen zu vergöttern gibt: ein See, ein Berg, ein Gletscher, bloße Reisedokumente, genau so wie Millionen andere, tagtäglich weltweit gemachte Amateuraufnahmen. Da jedoch der Gegenstand eurer Fotos so erschütternd ist – die Asche eures Kindes und das Verstreuen dieser Asche –, ist jeder erschüttert, der sie sieht. Eure Freunde mögen euch; also glauben sie euch. Das Island eurer Trauer ist einzigartig. In der Nacherzählung fügt sich alles zusammen. Die diversen Rückstöße bekommen in eurer Sammlung eine ganz eigene Kohärenz. Der Weg von der Bretagne nach Island ist vollkommen gerade, sämtliche Umwege bis zum Ende eingeschlossen. Unermüdlich hören die Freunde Mama und Papa zu, die genauso unermüdlich weitererzählen. In ihrer immer stringenteren Erzählung läuft alles perfekt ineinander.
    Haben sich die Dinge wirklich so zugetragen, wie sie erzählen? Dazu kann ich nichts sagen: Ein Toter hält lieber seinen Mund. Da kommt ohnehin nichts Gescheites raus.
    Sicher ist jedenfalls die Freude der Eltern, wenn sie Besuch empfangen, mit dem sie die Freude an der Erzählung teilen können. Vielleicht wird der Schmerz, wenn die Trauer auf diese Art verarbeitet wird, irgendwann zu einem süßen Schmerz. Das ist wahrscheinlich das Einzige, worauf es ankommt.
    Ende September kommt eines Abends die schöne Rachel vorbei. Wie üblich zeigt ihr auch ihr die Fotos.
    »Hier, sieh mal, das ist der Berg und das da, das ist die Lagune und das, das ist Giloup, der im eiskalten Wasser untergetaucht ist – dieser Irre, wir hatten solche Angst! Das da, das ist …«
    Rachel unterbricht euch. Sie klickt

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