Als ich meine Eltern verließ - Roman
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»Kann ich?«
Sie lässt sich Zeit, während sie die Fotos von der Lagune miteinander vergleicht.
»Das ist unglaublich, da, in dem Wasser …«
»Was? Was ist unglaublich?«
»Habt ihr das nicht gesehen?«
»Ja, die Eisblöcke, das blau-grüne Wasser …«
»Nein, schaut doch: Da sind Augen, ein Gesicht: Ja, da ist ein Gesicht im Wasser! Und … Aber … das ist ja der Kopf von einem Löwen!«
Jeder kennt diese Suchbilder für Kinder, die darin den Jäger finden müssen, der sich in einem Baum versteckt hat und weder vom Hasen noch zunächst vom Kind gesehen wird, selbst wenn es sich das Bild aus allen möglichen Perspektiven anschaut. Manchmal braucht man viel Zeit und Scharfblick dafür. Als ich klein war, liebte ich diese irritierte Wahrnehmung, wenn weder das Rotkäppchen noch ich den unsichtbaren Wolf sahen, obwohl er sich ganz sicher in der Zeichnung befand, man musste nur genau hinsehen. Als Student hatte ich ähnlichen Spaß mit den eher ernsten Theorien zur Gestaltpsychologie. Und vor nicht allzu langer Zeit, kurz vor meinem Tod, hatte ich noch meine Freude an diesen pointillistischen Bildern aus tausend Farbtupfern, auf denen auf einmal, solange ich mich darauf einließ, zwei unterschiedliche Ebenen hervorstachen. Mal flatterten Zahlen, mal ein Gesicht vor einem bunten Hintergrund auf. Klar und deutlich drängt sich etwas in plastischer Form in eine Welt hinein, die das Auge noch vor drei Sekunden als eben wahrgenommen hat und die jeglicher Form und Gestalt entbehrte.
Rachels kindliche Gabe zu sehen hat in dem isländischen See einen Löwenkopf auftauchen lassen. Und dank ihr und ihren Fähigkeiten zum Spiel mit der Wahrnehmung können auch die Eltern nun diese Gestalt entstehen lassen, die sie bislang nicht gesehen hatten – weder direkt vor Ort an den Hängen des Eyjafjallajökull im August noch nach ihrer Rückkehr in Frankreich – in den seit einem Monat so beständig betrachteten Fotoalben. Dieser Löwenkopf war direkt vor ihren und den Augen Dutzender Freunde gewesen. Aber niemand hat etwas anderes darin gesehen als eine schmerzvolle Wallfahrt.
Jetzt, mit Rachels Augen, ist es umgekehrt, man sieht nur noch die neue, so offensichtliche und viel aufregendere Sache: das Gesicht eines Löwen im Wasser der Lagune, Lion. Mama und Papa sprechen von meinem See. Der See von Lion und der Vulkan von Lion werden zu Eigennamen, die Gänsehaut verursachen. Jedes Mal, wenn sie mit einem Freund reden, jedes Mal, wenn sie die Fotos zeigen, bleibt des Rätsels Lösung so lange im Hintergrund, bis es dem Betrachter auf einmal förmlich ins Gesicht springt – faszinierend. Bingo bei jedem einzelnen Versuch. Es ist ein Spiel mit den Formen, die Lust am Mysteriösen, ja tatsächlich, in dem Vulkansee ist ein Löwe, an dem Ufer, wo sie die Asche ihres Löwen, ihres Lion, verstreut haben!
Mama und Papa wirken jedes Mal überglücklich.
Papa, mit dem Herumzeigen der Resultate deiner fotografischen Spielereien hältst du jeden zu wilden Spekulationen an. Der Teufel verführt zum Glauben an das Übernatürliche. Du machst dich zu seinem Komplizen und genießt die aufkommende Verwirrung. Die so erzählte Geschichte von meiner Asche evoziert zwangsläufig die Frage: »Ist es möglicherweise der Geist von eurem Lion, der da im See ist?«
Unvermeidlich. Alle, die auf der Suche nach dem Jenseits und seinen verborgenen Kräften sind, sehen darin einen ziemlich starken Beweis. Die größten Agnostiker sind peinlich berührt angesichts dieser Fotos und unfähig, irgendeinen Einwand gegen diesen Löwenkopf hervorzubringen, gegen die beiden Augen, die Augenbrauen, das Maul, alles unbestritten vorhanden. Ein lebloses Etwas hat eine solche Ausstrahlung, dass es in ihr eine Form von Leben annimmt. Das macht einen nervös. Die Trennung der Welten scheint sich aufzulösen. Papa bringt die rationalistischen Gewissheiten gern ins Wanken, vor allem seine eigenen. Dank seiner Freunde, die zu Besuch kommen, rütteln sie unverhohlen an einem eigentlich unantastbaren Mysterium.
Und wenn die Verwirrung dann komplett ist, macht Papa die Stimmung kaputt. Sein Hang zum positivistisch-objektivistischen Denken jagt die mystischen Geister davon. Er dreht das Foto um und verrät das Geheimnis: Unebenheiten des Gletschers, Felsen, Eiszacken, Moränen und Spalten spiegeln sich im Wasser. Sie sind der Grund für dieses Schimmern, das so sehr an einen Löwenkopf erinnert. Man glaubte, etwas zu sehen, wo lediglich Lichtspiele und
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