Als ich meine Eltern verließ - Roman
beschützt hat. Spielbergs Geschöpf hat Millionen Kinder unter seine Fittiche genommen. Mama und Papa sind zutiefst gerührt, als sie sehen, wie er in Island wieder für mich da ist.
Marie-Hélène will Fotos machen. Sie hat sofort verstanden, dass das alles festgehalten werden muss. Mama und Papa werden sich die Bilder bis in alle Ewigkeit anschauen, sie werden ihr heiligster Schatz sein, sobald sie in Frankreich zurück sind. Marie-Hélène leiht sich deine Digitalkamera. Doch da sie nicht weiß, wie sie funktioniert, fragt sie nach. Aber du bist mit deinem Kopf woanders, klammerst dich an Mama und an mich. Von Weitem erklärst du ihr halbherzig, wie es geht; aber es bringt nichts. Offen gesagt sind dir die Fotos in dem Augenblick egal, du siehst bloß noch meine Asche und die Steine meines neuen Laren- und Lavagottes. Da Marie-Hélène es allein nicht hinkriegt, bittet sie dich erneut.
Und du sagst: »Müssen wir unbedingt Fotos machen?«
Darum geht es dir gerade überhaupt nicht. Dich von mir lösen, von deinem Schmerz? Das willst du nicht. Marie-Hélène glaubt, du hättest sie nicht verstanden, und versucht es noch einmal. Stille. Sie wartet ab, lässt dir Zeit. Dann wieder ein Versuch. Endlich verstehst du sie. Das war ein Fehler. Fatal error hieß es in meinen Videospielen. Verstehen heißt bereits so viel wie sich lösen. Du schaust dich um und betrachtest die Szenerie; sie hat vollkommen recht, selbstverständlich muss man Fotos machen. Du willst aber nicht aus meiner Asche auftauchen, aus meinem Tod, aus mir, aus der Ewigkeit … – kaum fasst man es in Worte, wird es pathetisch. Du hast den Fotoapparat angestellt und den Sucher an dein Auge gehoben, womit das Unvermeidliche eingetreten ist: Du bist nicht mehr da, weinst nicht mehr, du bist im Objektiv und kein weinender Papa neben seiner Frau mehr, du jagst Fotos hinterher.
Aufnahmen von der Asche – die bestimmt nichts werden, denn nüchtern betrachtet ist meine Asche auf der Vulkanasche grau auf grau. Aufnahmen vom Krater. Von der Lagune. Porträts von Mama, selbst unter Tränen hübsch wie immer. Der Apparat schießt nach allen Seiten: auf den See, den Berg, den Gletscher, der sich im Wasser spiegelt. Dann wieder auf die Asche, auf E. T., Nahaufnahmen und Panoramaansichten. Papa dreht und wendet sich in alle Richtungen. Mit der Digitalkamera ist man nirgends sparsam. Der Apparat nimmt alles auf, was sich bewegt, und vor allem, was sich nicht bewegt – und hier vorherrscht, die stillstehende Zeit und Natur.
Auf einmal erscheint eine nackte Gestalt im Objektiv. Die Optik erstarrt. Die Gestalt taucht zwischen zwei Eisblöcken ins Wasser. Entsetzt kehrt der Fotograf ins wahre Leben zurück, oder vielmehr kehrt das Leben zu Papa zurück, der Nackte war Giloup! Dieser Mann ist verrückt, warum springt er da hinein, das eiskalte Wasser ist lebensgefährlich. Du vergisst deine Nikon und schreist: »Gilles, mach keinen Scheiß, mach keinen Scheiß!« Panik. Zehn endlose Sekunden lang. Bis Giloup am hinteren Ende einer Eisscholle wieder an der Oberfläche auftaucht. Er lacht. Klettert ans Ascheufer und zieht sich an.
Von Weitem ruft er: »Ich musste reinspringen. Es ging nicht anders. Ich weiß auch nicht, warum. Schau her, nix passiert …«
Papa schimpft mit der durchgeknallten Wasserratte: Wir befinden uns Stunden entfernt von jeglicher Hilfe, er hätte sterben können. Die nackte Wasserratte wirft ihm mit beiden Händen einen Kuss zu, eine gehauchte Liebkosung. Angesichts dieser spontanen, animistischen Handlung weicht deine Panik grenzenloser Bewunderung. Der Fotograf in dir eilt dir zu Hilfe und macht ein paar Aufnahmen von der aus dem Eis geretteten Wasserratte Giloup. Doch ein derartiges Badevergnügen bedeutet das Aus für jegliche Fotosession. Unmöglich, wieder anzuknüpfen. Wieder steigen Tränen auf. Du kehrst zu mir zurück, zu deiner Trauer und zu Mama, die sich von nichts hat beirren lassen. Vorbei die Aufregung, das Ritual geht weiter.
Was soll der Versuch, das Unsichtbare der Gefühle einzufangen, wenn man kein Fotograf ist? Antwort: um dem Teufel zu gehorchen und zu verhindern, dass das Unbekannte geschieht. Papas Teufel lauern ganz in der Nähe. Mist! Papa regt sich auf. Verdammt, es leben meine Teufel! Warum nicht? Es lebe der Teufel, mit dem ich an den Hängen des Eyjafjallajökull herumgedealt habe. Es ist der gleiche Teufel, oder sein Cousin, der mir ins Ohr geflüstert hat, meinen Fotoapparat mit in die Leichenhalle zu
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