Als ich meine Eltern verließ - Roman
dass kein -iv ihn mehr zurückhalten kann, seine Platte hat Kratzer bekommen – so mag ich Papa am liebsten –, jetzt ist er naiv, jubilativ, explosiv, superlativ. Weiter so, Papa! Er jauchzt vor Freude, den Engeln, dem Baby, mir. Klatscht in die Hände. Ein irrwitziges Programm hat ihn insgeheim gelenkt oder auch das Schicksal oder die Götter, wie auch immer, er hält nicht inne, um zu verstehen, das ist jetzt nicht der Moment, er ist von Glück erfüllt, das ist alles. Wie ein Blitz fährt ein Zucken durch seinen Körper. Durch Mamas ebenso. Weinend fallen sie sich in die Arme. Sie sind überwältigt, glücklich, das Wort ist zwar nicht angebracht, aber egal.
Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder außergewöhnlich sind. Auch Papa ist ein Papa wie alle anderen. Da mein Tod immer wieder eine außergewöhnliche Wendung nimmt, frohlockt Papa: »Bérangère, das ist genial, wir haben noch welche! Wir haben noch Asche von Lion hier zu Hause! Wir haben nicht alles beerdigt. Wir können noch Asche verstreuen!«
Bérangère ist sprachlos. Sie versteht kein Wort. Die Eltern erklären ihr, was es mit der heimlich zurückbehaltenen Asche auf sich hat. Endlich hat sie einen Sinn bekommen. Sie hat nicht bloß zu Hause herumgelegen, um das Leid der trauernden Eltern zu nähren, sondern wurde beiseite gelegt, um verstreut zu werden. Es ist, als leuchtete in diesem Zufall ein Funken Bedeutung auf. Beinahe halten sie es für ein Wunder. Mama und Papa sind außer sich vor Freude, sie haben mich wiedergefunden. Wie in Trance umarmen sie die junge Frau, würden am liebsten Luftsprünge machen. Sie lachen und weinen gleichzeitig.
Ridi Pa-pagliaccio! Lach schon, Papa, deine Trauerarbeit ist einen Schritt weiter.
Papa weiß noch immer nicht, was ich an Island so toll gefunden habe – aber letzten Endes war es unerheblich, ob es an Björk, der Stille der endlosen Landschaften oder der Universität von Reykjavik lag, von der ich ihm in Rennes während unseres letzten gemeinsamen Essens erzählt habe.
Mama und Papa beschließen, so bald wie möglich nach Island zu reisen, um meine wie durch ein Wunder aufbewahrte Asche zu verstreuen. Und natürlich auch, weil sie meinen letzten Willen respektieren wollen.
Ein Monat später, 14. Dezember 2003, Sonntag, 18 Uhr, es ist dunkel und nieselt, als dieser verrückte Auftakt in einem fröhlichen, Douarnenez-typischen Schlussakkord endet. In der Rue du Couédic ertönt das Ständchen einer bunt zusammengewürfelten Truppe aus Akkordeons, Kazoos, Tamburinen, Trompeten und Schiffssirenen. Mit Fanfaren sind fünfzig Maskierte losgezogen, Proviant und Flaschen im Schlepptau, um Mama und Papa zwei Flugtickets nach Reykjavik zu überreichen. Die unglaubliche Geschichte mit der Asche hat im Finistère Kreise gezogen; die Freunde haben eine Überraschungsfeier vorbereitet; sie haben zusammengelegt, sich verkleidet und Lieder und Geschichten eingeübt. Und heute Abend treten sie als Matrosen, Kapitäne, Bauern, Aristokraten, Bretonen nach guter, alter Tradition und klapprige Clowns auf, die sich zu einem ordentlichen Gelage treffen, um den Eltern die Reise nach Island zu schenken. Das ist ihre Art, sie bis zum Schluss zu begleiten.
Eure Freunde sind einfach spitze.
Es ist exakt der neunundvierzigste Tag nach meinem Tod. Nach buddhistischem Glauben bricht an diesem Tag die Seele endgültig mit der irdischen Welt. Für die Freigeister von Douarnenez reiner Zufall. Trotzdem hat irgendwer nach ein paar Gläsern Wein und zotigen Liedern auf diese zufällige Übereinstimmung hingewiesen. Darauf erwiderte Papa, dass der Tod, wenn man nicht aufpasst, jeden in einen Pfaffen verwandelt.
August 2004, sechs Monate später. Bevor Mama und Papa Douarnenez verlassen und zu ihrem Flug Brest–Paris–Reykjavik aufbrechen, präparieren sie meine Asche. Sie öffnen eine der zwei Schatzdöschen, deren Deckel sich so schwer aufschrauben lassen. Und wieder fliegt überall meine Asche herum wie letzten Oktober. Erneut verflüchtigen sich in einer unaufhaltbaren, kleinen Wolke winzige Bruchstücke von mir. Für Papa, der wie üblich weinen muss, ist es unerträglich. »Mein Sohn, mein Sohn« – etwas anderes bekommst du nie über die Lippen, wenn du weinst, Papa, außer »mein Sohn …«. Er hält die Nase in den Staub, damit nichts von seinem Sohn verloren geht. Selbstverständlich, denn das war vorherzusehen, bleibt er ihm im Hals stecken. Mama denkt praktischer und fängt alles ein, was sie kriegen kann.
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