Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
Vom Netzwerk:
-reflexe waren.
    Er lässt Träume platzen und mit ihnen jedes pataphysische Entgegenkommen. Er demystifiziert, wie man so schön sagt. Meistens klappt es nicht ganz, und dann behilft er sich mit folgender Erklärung:
    »Wie gut es tut, Geschichten zu erzählen! Wenn ich diese Bilder ansehe und euch beschreibe, bin ich glücklich. Ich liebe diese Fügungen, sie geben mir inneren Frieden. Mir geht es gut damit. Danke, wem auch immer, für den Glücksfall, dass in unserem riesigen Chaos zahllose Lichtblicke aufleuchten. Und wenn es einmal beim Erzählen zu wirr wird, habe ich einen Notgedanken parat: Ich sage mir, dass Künstler auf der Bühne manchmal auch diese Gnade erfahren.«
    Wo beginnt die Gnade? Wo beginnt der Wind? Papa sagt, dass er sich auch über Wind freut.
    Er hat auf alles eine Antwort.
    Die unglaubliche Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ein paar Wochen später erscheint die vorletzte Episode in diesem Asche-Fortsetzungsroman, der ohnedies ein hohes Maß an neuen Wendungen aufweist. Ein Foto wird Papa erneut fast wahnsinnig machen und ein weiteres Kapitel in dem Erzählband aufschlagen. Es geschieht Ende Oktober 2004, der Winter steht bevor. Vor ziemlich genau einem Jahr bin ich gestorben, vor zwei Monaten sind sie aus Island zurückgekommen. Wie gewöhnlich sitzt Papa vor seinem Computer und stöbert in iPhoto.
    Selbstverständlich hat Papa auch Aufnahmen vom Friedhof und vom Grab mit dem Steinlöwen gemacht, den Giloups Großvater gehauen hat. Der Anblick des moosbedeckten Steinlöwen gehört unter anderen zu Papas glücklichen Momenten, wenn er zum Weinen auf den Friedhof geht. An diesem Abend klickt Papa eins der Friedhofsbilder an. Auf einmal schwant ihm etwas. Er geht auf Bearbeiten und vergrößert das Bild um ein Vielfaches. Ja! Kopieren, einfügen, vergleichen: Die Fotos vom Vulkansee und vom Friedhof liegen nun im gleichen Maßstab nebeneinander auf dem Bildschirm. Ja, kein Zweifel, er hatte den richtigen Riecher, und wieder wird etwas Unsichtbares sichtbar: Der Löwe auf dem Friedhof von Ploaré entspricht bis ins kleinste Detail dem Bild des Löwen im See in Island . Der Löwe aus dem See und der Löwe aus Stein sind Zwillinge.
    »Martine, komm mal, komm mal gucken!«
    Mama legt ihr Buch weg und setzt sich zu ihm an den Rechner.
    »Sieh mal. Noch so etwas Irrwitziges, sieh genau hin: Als der bekloppte Giloup in Island in den eiskalten See gesprungen ist, erinnerst du dich, da hat er sich in Wirklichkeit in die Spiegelung des Löwen von seinem Großvater gestürzt. Sieh nur!«
    Tatsächlich: Giloup springt in ein Bild, das in allen Details der Steinskulptur ähnelt, die er auf mein Grab gestellt hat. Giloup hat mehrmals wiederholt, dass er sich diese Zwangshandlung, nackt ins Wasser springen zu müssen, nicht erklären kann. Jetzt hat Papa verstanden. Giloup hat nicht nur ein Reinigungsritual vollzogen, er hat sich auch von einem Bild angezogen gefühlt, das er nicht sah. Er hat ein unsichtbares Band zwischen der Bretagne und Island geknüpft, zwischen einem Friedhof und dem anderen, als er blind in den Löwen seines Großvaters eintauchte.
    Papa beginnt durchzudrehen. Von Episode zu Episode wird seine Geschichte immer verrückter. Genug, genug. Papa sucht Halt. Ich bin es, der hier entscheidet, niemand sonst, nicht der Teufel, nicht die Götter, nicht Lion und nicht Zeus! Papa nimmt all seinen Verstand zusammen für eine Erklärung, die das Rätsel weder wahrt noch auflöst. Und wenn das alles Mama und Papa nur deshalb passiert ist, weil sie darin geübt sind, auf der Musik- und Theaterbühne verborgene, außergewöhnliche Kräfte zu erkennen und aufzugreifen? Manchmal haben Künstler einen Draht zu den Göttern. Manchmal nicht. In beiden Fällen ist es übrigens irre. Hier ist es genauso.
    Und ich, was meine ich? Hat sich das alles wirklich so ereignet, wie sie erzählen, mein Tod, die Trauerfeierlichkeiten, die Asche, Island, die Spiegelungen im Wasser, Giloup …? Ich habe nichts zu sagen. Ewige Ruhe auf dem Friedhof.
    »Man muss überall Zeichen sehen, solange sie uns Zeichen geben«, flüstert ihm Louise ins Ohr. Papa mag diesen Spruch und macht ihn sich zu eigen. Zur größeren Sicherheit redet sich Papa ein, dass diese Zeichen vollkommen menschlich und keinesfalls zweideutig sind, nicht wahr? Mama ist es egal, ob es rational ist oder nicht. Realität, Vorstellung, Halluzination, Zeichen, Gefühl: Wen interessiert das? Ich bin es, der sie sowohl beim Weinen als auch beim Lachen

Weitere Kostenlose Bücher