Als ich meine Eltern verließ - Roman
ihr das Auto an einem See abstellt. Komplette Programmänderung. Kein Þormörk, schade für die Freundinnen, den Wald und den Gott des Donners. Spontan unternehmt ihr eine Wanderung nach Gigjökull, einer Gletscherzunge mit einem Höhenunterschied von eintausend Metern zur Lagune Lónið. Auf der Karte steht, dass der Berg Eyjafjallajökull heißt – laut Reiseführer »Ey-afja-tla-jökudl« ausgesprochen, mit lang gezogenen und kurzen Silben. Ihr gebt auf, zu schwierig. Im Rucksack Proviant und Sonnencreme, auf der Nase die Sonnenbrille, marschiert ihr durch das schwierige Gelände. Über euch strahlend blauer Himmel. Island, wie man es sich nur erträumen kann, Lichteinfall in die verstecktesten Winkel südlicherer Breitengrade. Ebenen und Berge, Sonne und Wasser, Eis und Vulkane, Stille und Natur, nichts als Natur, die dich mit tausendjähriger, immergleicher Herzlichkeit empfängt. Rings um den See von Asche geschwärzte Uferböschung. Nach einem guten Kilometer Fußmarsch auf weichem, goldglänzendem Moos hallt vom Tal das Lachen des liegen gebliebenen Pärchens herauf.
Ihre Heiterkeit ist Teil der mit diesem Ort verbundenen Musik, gravitätisch und schwerelos in einem.
Es geht ziemlich steil aufwärts. Giloup und Papa laufen quer durch die Heide, schweißüberströmt und mit nacktem Oberkörper, Marie-Hélène und Mama im T-Shirt. Die Sonne lacht vom Himmel. Dreihundert Meter gegenüber glänzt der Gletscher in voller Pracht und stürzt in die Lagune mit den tausend Inselchen hinab, die ihr icebergs und growlers nennt – und in typisch französischem Humor auch Burgunder Rindfleischstückchen, um von den schlauen Bemerkungen im Reiseführer abzulenken und eure Geschmackspapillen in Alarmbereitschaft zu setzen, denn in der absoluten Ödnis riecht es nach bœuf bourguignon . Die Eisblöcke schwimmen auf einer blau-grünen, glatten Wasserfläche, in der sich Schnee, Moränen und Gletscherspalten spiegeln.
Es kehrt wieder Ernsthaftigkeit ein: Das ist mehr als großartig, das ist ergreifend.
Nach einer Stunde Fußmarsch ist es für euch beide unabhängig voneinander mehr als eindeutig: Hier soll es sein, in der Asche dieses Vulkans, gegenüber dieser Sonne aus Eis, hier wollt ihr meine Asche verstreuen. Seit fast einer Woche durchstreift ihr Island von Landschaft zu Landschaft auf der Suche nach einer geeigneten Stelle, ohne eine Entscheidung zu treffen, am Meer oder in den Bergen, Wasserfall oder Wüste, milde Wärme oder glühende Hitze. Überall war es schön. Doch erst heute, genau an dieser Stelle, ist es auf einmal völlig klar. Der Wetterbericht heute Morgen, die Furt mit dem Hochwasser, die Panne des Allradfahrzeugs, die Unbeschwertheit des Lichts und der Seele und schließlich die atemberaubende, weite Landschaft: Eine Anhäufung kleiner Zufälle entscheidet über den Ort, an dem ihr meine Asche verstreuen werdet. Dieser Hang an dem seit zwei Jahrhunderten erloschenen Vulkan, der verloren am hintersten Ende Islands steht, er ist es, den ihr zu eurer ganz persönlichen Landschaft auserwählt, eine unendlich kostbare, sonderbar liebevolle Landschaft – mein zweiter Friedhof.
Der Weg eurer Trauer scheint euch durch Zufall dorthin geführt zu haben. Ihr befindet euch an den Hängen des Eyjafjallajökull, was euch nicht wirklich bewusst ist. Das würde aber auch nichts ändern: Im Jahr 2004 kannte abgesehen von ein paar hundert Isländern und ein paar Dutzend Vulkanologen niemand auf der Welt diesen »unaussprechlichen« Namen, wie Fernsehjournalisten in sechs Jahren sagen werden.
Ihr vollzieht das Ritual, meine weiße Asche fällt auf die schwarze Vulkanasche. Tränen. Ihr sitzt Hand in Hand nebeneinander und weint. Es ist schlimmer, als ihr gedacht habt. Auch Giloup und Marie-Hélène weinen, in richtigem Abstand, nicht zu nah, nicht zu weit weg.
Eine lange Weile später. Mama und Papa rufen die beiden zu sich. Sie wollen das Ritual gemeinsam fortsetzen. Giloup setzt sich zu euch und baut aus fünf oder sechs Steinen einen Cairn wie seit ewigen Zeiten Pilger aus aller Welt. Ein kleines Grasbüschel obendrauf, und schon steht eine Art zerzauster E. T. neben meiner Asche. Giloup bindet seinen weißen Schal um E. T. Eine freundliche Statue wird mir so an den Hängen des Eyjafjallajökull Gesellschaft leisten. Als kleiner Junge habe ich mir mit Mama und Papa mehrfach Spielbergs Film angesehen. An meiner Seite konnten sie wieder in ihre Kindheit eintauchen, während E. T. mich am Abend beim Einschlafen
Weitere Kostenlose Bücher