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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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und steckte ihn unter größter Kraftanstrengung in den Plastikkissenbezug. Als sich dieser knisternd um meinen Kopf legte, presste ich mein Gesicht mit aller Gewalt ins Kissen und sagte mir, am nächsten Tag brauche ich nicht aufs Land zu fahren; bald sei ich von Angst befreit.
    Immer schneller und heftiger atmend, begann ich zu schwitzen, während sich mein Kopf immer leichter anfühlte. Ich hatte einen Weg gefunden, Angst zu überwinden, und ich fühlte mich beschwingt. Doch dieses Gefühl wich schnell tiefer Verzweiflung, als ich feststellte, dass ich keinen Erfolg haben würde. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte meinen erbarmungswürdigen Körper nicht davon abhalten, weiter zu atmen. Am nächsten Tag wurde ich wie geplant aufs Land gebracht, und auch danach musste ich ein- oder zweimal pro Jahr in dieses Heim.
    »Die können sich besser um dich kümmern als ich«, erzählte mir meine Mutter wieder und wieder, wenn sie es war, die mich dorthin verfrachtete.
    Sie wiederholte immer den gleichen Spruch, wie eine Beschwörungsformel, von der sie hoffte, sich damit der in ihr aufsteigenden Schuldgefühle erwehren zu können.
    »Du wirst da richtig gut versorgt«, insistierte sie und klammerte sich daran.
    Ich bin sicher, sie hätte dies nie gesagt, wenn sie gewusst hätte, wie es in dem Heim zuging. Doch sie wusste es nicht, und ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen Wut und Trauer, wenn ich ihr zuhörte: Wut darüber, dass meine Eltern mir dieses Heim aufzwangen, das ich so sehr hasste, Trauer wegen der vermeintlichen Überzeugung meiner Mutter, Fremde könnten besser für mich sorgen als sie. Das Feuer des Verlangens, bei ihr zu bleiben, brannte glühend heiß in mir, und ich hätte sie so gerne spüren und wissen lassen wollen, wie sehr ich wünschte, mit ihr zusammen zu sein, und mit niemandem sonst.
    Als Letzte kam Einsamkeit, und sie war vielleicht die grauenerregendste aller Furien, da ich ständig wusste, dass sie langsam das Leben aus mir saugen konnte, selbst wenn ich in einem Raum saß, in dem ich von Menschen umgeben war. Während diese hin und her eilten, schwatzten, sich zusammentaten und wieder verkrachten, spürte ich, wie sich die alles lähmenden knochigen Finger der Einsamkeit fest um mein Herz klammerten.
    Wie isoliert sie mich auch immer fühlen ließ, Einsamkeit fand immer neue Wege, mich ihre Anwesenheit empfinden zu lassen. Vor einigen Jahren bekam ich eine Betäubungsspritze, nachdem ich für eine Operation ins Krankenhaus gekommen war, und als ich in den OP -Raum geschoben wurde, waren Mam und Dad bereits gegangen, weil sie zur Arbeit mussten. Eine Krankenschwester hielt meinen Arm fest, während eine Nadel in eine Vene geschoben wurde, und ein Anästhesist schloss eine Spritze mit weißer Flüssigkeit an.
    »Träume süß«, sagte er leise, als ich einen brennenden Schmerz meinen Arm hinauf in Richtung Brust kriechen spürte.
    Als Nächstes weiß ich nur, dass ich in einem kalten Krankenhausbett auf der Seite lag. Es bewegte sich, und ich konnte nicht vernünftig sehen. Ich war völlig desorientiert und versuchte verzweifelt herauszufinden, wo ich mich befand. Da spürte ich, wie meine Hand gepackt wurde, um eine Nadel zurechtzurücken, die in einer Vene steckte, und ich griff so fest es ging danach, da ich mir davon einen Moment der Verbundenheit erhoffte, der das Gefühl des völlig Alleingelassenseins bekämpfen würde. Doch die Hand wurde brüsk zurückgerissen, und ich hörte nur noch sich eilig entfernende Schritte, während ich dort lag und mich vor Scham wand, in dem Bewusstsein, ein Ausbund von Hässlichkeit zu sein.
    Was mich rettete, war die Erkenntnis, dass Einsamkeit eine Achillesferse hatte. Das Netz der Isolation, in das sie mich eingewoben hatte, konnte von Zeit zu Zeit zerrissen werden. Nur wusste ich nie, wann es geschah.
    Ich erinnere mich, wie mein Vater von einem Buch erzählte, das einer seiner Arbeitskollegen gelesen hatte. Es handelte von einem Mann, der als Erwachsener eine Behinderung erfahren hatte und behauptete, eines der unangenehmsten Dinge beim Sitzen in einem Rollstuhl sei die Unbequemlichkeit, die dadurch verursacht werde, dass man schlecht hineingesetzt wird. Ich spitzte sofort die Ohren, denn während meiner Wachstumsphase wurde mir zunehmend bewusst, dass man mich einfach auf meinen Hoden sitzen ließ. Das Gefühl war eine äußerst eigentümliche Form des Unbehagens: Der Schmerz wich Taubheit, bevor sich die Pein als Folgeerscheinung

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