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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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wo ich heute bin. Meine Rehabilitation ist das Werk vieler Menschen – Virna, meine Eltern, die Spezialisten des Kommunikations-Instituts –, denn ohne deren Hilfe hätte ich nie sprechen gelernt. Andere haben nicht so viel Glück.
    Kürzlich sahen wir in demselben Supermarkt, in dem der Mann versucht hatte, das Gespräch mit meiner Mutter zu belauschen, eine Frau, die im Rollstuhl herumgeschoben wurde. Ich schätzte sie auf ungefähr fünfzig. Meine Mutter begann schnell ein Gespräch mit ihr und ihrer Pflegerin. Vielleicht benutzte die Frau Zeichensprache oder zeigte auf Dinge, jedenfalls kam meine Mutter irgendwie dahinter, dass sie nach einem Schlaganfall ihr Sprachvermögen verloren hatte.
    »Ist Ihre Familie über all diese Dinge informiert, die unternommen werden können, um Ihnen dabei behilflich zu sein, wieder zu kommunizieren?«, fragte Mam die Frau und zeigte ihr meine Alphabetvorlage. »Es gibt so vieles, Sie müssen es nur finden.«
    Die Pflegerin erzählte uns, die Frau habe eine erwachsene Tochter. Mam legte ihr nahe, der Tochter zu berichten, sie habe jemanden getroffen, der von all diesen Dingen erzählt habe, die für ihre Mutter getan werden könnten.
    »Es gibt keinen Grund, weshalb Sie nicht in der Lage sein sollten, wieder mit Ihrer Tochter zu kommunizieren«, sagte Mam zu der Frau. »Sie müssen nur herausfinden, was für Sie am geeignetsten ist.«
    Doch als wir die Frau das nächste Mal trafen, erzählte die Pflegerin, die Tochter habe nichts von dem unternommen, was sie hätte tun sollen.
    »Geben Sie mir doch bitte die Telefonnummer der Tochter«, sagte Mam. »Ich würde ihr gerne versichern, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben darf und auch nicht auf das hören soll, was die Ärzte sagen.«
    Während die Pflegerin die Telefonnummer auf ein Stück Papier schrieb, schaute ich zu der Frau, die mir gegenüber im Rollstuhl saß.
    › V - I - E - L - G - L - Ü - C - K ‹ buchstabierte ich in meinem Alphabet, und sie starrte mich unendlich lange an.
    Ein paar Tage später kam meine Mutter ins Wohnzimmer zurück, nachdem sie mit der Tochter der Frau telefoniert hatte.
    »Ich glaube nicht, dass sie sich über meinen Anruf gefreut hat«, sagte sie. »Sie schien nicht sonderlich interessiert zu sein.«
    Wir verloren kein Wort mehr darüber. Wir wussten beide, dass die Frau nie mehr der Zwangsjacke ihres eigenen Körpers entkommen würde – man würde ihr nicht die Chance dazu geben. Sie würde für immer stumm bleiben, weil es niemanden gab, der ihr half, sich zu befreien.
    Danach habe ich oft über die Frau nachgedacht und mich gefragt, wie es ihr gehen mochte. Und jedes Mal, wenn ich dies tat, sah ich ihre Augen vor mir, wie sie mich damals bei unserem letzten Treffen im Supermarkt angeschaut hatten. Sie waren voller Angst. Jetzt verstehe ich, weshalb.

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    31
Die Rede
    I ch kann kaum glauben, dass ich hier bin. Es ist November 2003, und ich sitze auf einer niedrigen Bühne in einem riesigen Hörsaal, zusammen mit meiner Kollegin Munyane, die gerade die Zuhörerschaft vor uns begrüßt hat. Mehr als 350 Leute müssen gekommen sein und darauf warten, dass ich endlich zu Ihnen spreche. Vier Monate arbeite ich jetzt im Kommunikations-Institut, und man hat mich auserkoren, im Rahmen eines Kongresses das Wort an Gesundheitsexperten zu richten.
    Zunächst hat Munyane eine Übersicht von AAC gegeben, und jetzt bin ich mit meiner Rede an der Reihe. Obwohl ich nicht mehr zu tun brauche, als auf den Knopf zu drücken, der dafür sorgt, dass die Stimme von ›Perfect Paul‹ aus der Lautsprecheranlage dröhnt, mit der mein Laptop verbunden ist, weiß ich nicht, ob ich dazu in der Lage bin. Meine Hände zittern dermaßen, dass ich bezweifle, sie unter Kontrolle zu bekommen.
    Irgendwie bin ich in den letzten Monaten zum öffentlichen Redner geworden, und meine Geschichte wurde sogar in den Zeitungen gebracht. Während es mich schon überraschte, weshalb mich ein ganzer Raum voll mit Leuten in einer Schule oder einem Gemeindezentrum hören wollte, kann ich mir gar nicht vorstellen, warum heute so viele Menschen gekommen sind. Ich wünschte, Erica wäre hier, um mir ein kurzes Lächeln zu schenken. Sie ist in die USA zurückgekehrt, und in Situationen wie dieser vermisse ich sie am meisten. Unsere Freundschaft, die ich so sehr geschätzt habe, ist jetzt beschränkt auf E-Mails, und die Tür, die sie mir in die Außenwelt geöffnet hat, ist wieder verschlossen.
    Im Prinzip hätte mir schon klar sein

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