Als ich unsichtbar war
Löwen, Gnus, Elefanten und Antilopen, und dabei lernten sie ungeheuer viel Wertvolles über die Tierwelt und sich selbst.
Als Erstes lernten sie Bescheidenheit, ausgelöst durch die Erkenntnis, wie unbedeutend Wünsche der Menschen sind: Elefanten, die auf ihren gewohnten Pfaden zum Wasser unterwegs sind, trampeln Menschen einfach nieder, wenn ihr Weg versperrt ist, und Bienen werden keinen Langfinger dulden, der sich an ihrem Honig gütlich tun will. Für wie wichtig wir uns auch halten mögen, wir sind lediglich eine Fußnote im Kreislauf der Natur.
Danach lernten sie, jede Sekunde hellwach zu sein, nachdem sie erfahren hatten, dass Löwen praktisch unsichtbar sind, wenn sie nachmittags im hohen, trockenen Buschgras liegen, um zu schlafen. Die Kinder mussten ständig auf der Hut sein, jeden einzelnen Schritt sorgfältig bedenken, wenn sie nicht versehentlich in ein schlafendes Rudel stolpern wollten.
Schließlich lernten sie Mut und wie sie diesen einsetzen konnten: Auge in Auge mit einem wütenden Elefanten hieß es laufen, was das Zeug hielt, wurden sie aber von einem Löwen angegriffen, mussten sie das Raubtier austricksen, indem sie ihm vorgaukelten, sie seien keine lohnende Beute, und stocksteif stehen blieben.
Dies waren die Lehren, die Joanna bereits als Kind in sich aufsog, und diese Furchtlosigkeit machte sie im Kopf so frei, wie ich es bei einem Menschen nie für möglich gehalten hätte. Doch Schritt für Schritt beginnt sie es auf mich zu übertragen, und ich habe das Gefühl, als würde ich mich innerlich auf einen Höhenflug begeben.
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48
Ich offenbare mich
L etzte Nacht schrieb ich ihr: »Ich denke die ganze Zeit nur an dich. Ich liebe dich! Ich musste es dir sagen.«
Woher ich das weiß? Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber irgendetwas anderes als Logik oder der Verstand vermittelt mir, dass es wahr ist. Vor ein paar Wochen erst habe ich ihre Bekanntschaft gemacht, dennoch bin ich sicher, dass sie ein Leben lang halten wird.
»Mein Geliebter«, schreibt Joanna am nächsten Morgen, »weißt du, wie lange ich schon gehofft hatte, eine Nachricht mit dieser Anrede beginnen zu können? Aber bisher hatte ich ja noch keine Gelegenheit dazu. Vermutlich weißt du gar nicht, wie glücklich du mich machst. Ich liebe dich so sehr, es ist schon fast schmerzhaft.«
Mein Herz rast, als ich diese Zeilen lese.
»Mir ist klar, wie verrückt das ist, da wir uns ja noch nicht mal getroffen haben«, schreibe ich. »Aber ich bin mir deiner sicherer, als ich es irgendeiner Sache vorher je gewesen bin.«
»Verstehe«, antwortet sie. »Ich muss mich immer selbst daran erinnern, dass dies wahr ist, denn manchmal kann ich gar nicht richtig glauben, dass ich diese Gefühle habe. Wie könnte ich auch? Ich wusste doch gar nicht, dass ich zu solchen Gefühlen fähig bin, und es macht mir schon fast wieder Angst. Es ist, als habe ich meine Emotionen nicht mehr im Griff.«
»Aber sooft ich mich auch frage, ob ich verrückt bin, weiß ich doch, dass mir das egal ist«, teile ich ihr mit. »Ich liebe dich! So einfach ist das.«
Wir unterhalten uns eindringlich, die Worte fliegen hin und her, über E-Mails, SMS und Internet-Telefon, und bei allem versuchen wir eine Erklärung für das zu finden, was wir gerade erleben.
»Wie kannst du dir deiner Gefühle denn so sicher sein, wenn wir uns noch nicht getroffen haben?«, fragt mich Joanna.
»Weil ich es körperlich spüren kann, mit jeder Faser«, erwidere ich. »Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich dir meine Liebe erkläre. Ich weiß, dass es in vielerlei Hinsicht keinen Sinn ergibt, doch es ist, als seien wir schon verbunden. Ich fühle mich von dir in stärkerem Maße akzeptiert als von jedem Menschen, dem ich jemals begegnet bin.«
»Manchmal glaube ich zu spinnen«, schreibt sie. »Es ist, als müsste ich innehalten und mich kneifen, weil ich so wahnsinnig in einen Mann verknallt bin, dem ich noch nicht mal von Angesicht zu Angesicht begegnet bin, und trotzdem habe ich das Gefühl, dich schon seit Jahren zu kennen.«
Ich verstehe, weshalb wir Fragen zu einem Wirbelsturm stellen müssen, der ohne Vorwarnung über unser beider Leben hereingebrochen ist. Es raubt einem die Orientierung, wenn die eigene Welt praktisch über Nacht sich grundlegend verändert. Aber bei der Liebe geht es nicht um Logik, und unsere Zweifel werden leicht ausgeblendet. Im Laufe der Jahre hatte ich Leute häufig sagen hören, man wisse, wenn man dem richtigen Menschen begegnet
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