Als ich unsichtbar war
ganzes Leben habe ich als Last empfunden. Joanna schenkt mir ein Gefühl von Schwerelosigkeit.
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47
Löwenherz
W ie kommt es, dass Joanna so mutig ist? Das habe ich mich wieder und wieder gefragt, nachdem sie alleine nach Amerika geflogen ist, weil ich mein Visum nicht rechtzeitig bekommen habe, um sie dort zu treffen. Wir waren beide bitter enttäuscht, aber zumindest wissen wir jetzt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, dass wir uns sehen werden.
Momentan bin ich dabei, mich mit meinem neuen Leben zu arrangieren. Bisher gab es bei mir lauter exakte Ecken und sanfte Kurven, die voraussehbar und geordnet auftauchten. Doch plötzlich habe ich es ständig mit unerwarteten Windungen und jener Art von Chaos zu tun, die eine andere Person schaffen kann. Joanna stellt mein ganzes Leben auf den Kopf. Ich hatte mich darin geübt, Entwicklungen einfach abzuwarten und zu akzeptieren: Ich hatte mich damit abgefunden, ein ernsthaftes Leben auf der Basis von Arbeit und Studium zu führen, und plötzlich bringt sie mich abwechselnd zum Lachen und zum Weinen. Ich hatte geglaubt, nie eine Frau zu finden, die ich lieben kann, und jetzt darf ich hoffen, eine gefunden zu haben. Normalerweise bin ich sehr vorsichtig und bedacht, doch Joanna macht mich leichtsinnig. Sie sieht keine Hindernisse, nur Möglichkeiten, sie ist absolut furchtlos, und ich beginne ebenso zu denken.
Sie erzählte mir, ein Jugendfreund habe sie gelehrt, über die Körperlichkeit eines Menschen hinwegzusehen, nachdem dieser Freund vom Hals abwärts gelähmt war. Er war etwas über zwanzig und glaubte vielleicht, sein Leben sei sinnlos geworden nach jener Nacht, in der das Auto, in dem er saß, von einem Zug erfasst wurde. Doch dann beschloss er, wie sein Vater Farmer zu werden. Heute ist er verheiratet und betreibt eine 400-Hektar-Farm.
»Vielleicht ist er nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe Tee zu trinken, aber er kann eine Farm leiten, weil er sprechen kann, und mehr braucht es nicht dafür«, erzählte mir Joanna. »Außerdem ist er weitaus glücklicher als die meisten Menschen, die ich kenne.«
Doch ich denke, die Wurzeln ihrer Furchtlosigkeit reichen sehr viel weiter zurück, in ihre Kindheit im ländlichen Südafrika, als sie von dieser Freiheit, die in so großem Ausmaß Bestandteil dieses Landes ist, durchdrungen wurde. Und wenn es einen Menschen gibt, der wirklich verantwortlich ist für ihren Mut, dann ist dies meiner Meinung nach ihr Vater, At Van Wyk. Er war ebenfalls Farmer, und sobald seine drei Töchter und sein Sohn alt genug waren, auf sich selbst aufpassen zu können, durften sie auf seinem Land tun und lassen, was sie wollten.
»Man sollte Dinge immer versuchen, bis man absolut nicht mehr in der Lage dazu ist«, predigte er seinen Kindern, »statt einfach ›Nein‹ zu sagen und es gar nicht erst zu probieren.«
So lernten Joanna und ihre Geschwister schon in jungen Jahren den sicheren Umgang mit Waffen und durchstreiften unbeaufsichtigt das Land, das ihr Vater bewirtschaftete. Als At im Alter von dreiundsechzig Jahren eine Herzattacke erlitt und sich einer Bypass-Operation unterziehen musste, warf er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus als Erstes eine Seilschlinge über den höchsten Ast, den er finden konnte, um eine Schaukel für seine Kinder in die Höhe zu ziehen. Sie hing hoch über einem ausgetrockneten Flussbett.
»Wie hoch schafft ihr es?«, schrie er begeistert, als sie über ihm durch die Luft schwirrten.
At wusste, dass er dem Tod um Jahrzehnte zu früh nahe gewesen war, doch er ließ sich nicht einschüchtern, indem er sonderlich vorsichtig mit sich selbst oder seinen Kindern umging. Als er sie mit ans Meer nahm, um ihnen den Ozean zu zeigen, ließ er sie in den hohen Wellen schwimmen und passte dabei auf, dass ihnen nichts zustoßen konnte, aber er erlaubte ihnen, das Wasser und sich selbst herauszufordern. Wenn sie auf Entdeckungsreise in den Busch fuhren, saßen die Kinder auf der Ladefläche eines offenen Lieferwagens.
»Ich halte an und hebe sie auf, wenn sie runterfallen, aber vorher nicht«, sagte er der Mutter einer Freundin von Joanna, als diese Einwände dagegen erhob, wie die Kinder reisen sollten.
Joannas schönste Erinnerungen drehen sich um die Ferien, die sie und ihre Familie jedes Jahr auf einer Farm am Rande des Kruger Game Parks verbrachten, die dem besten Freund ihres Vaters gehörte. In diesen wunderbaren Wochen streiften Joanna und ihre Geschwister durch den Busch, auf der Suche nach
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