Als ich vom Himmel fiel
nächsten paar Hundert Kilometer hatte ich dann wieder etwas zum Nachdenken.
Zwei Tage und eine Nacht nach unserem Aufbruch in Lima erreichten wir endlich Pucallpa, damals eine richtige kleine Pionierstadt. Sie war von Farmland umgeben und das Farmland wiederum vom Urwald. Hier konnten wir uns mit allem eindecken, was wir im Urwald brauchten: Grundnahrungsmittel wie Zucker, Schmalz, Öl und Mehl. Um anschließend nach Tournavista, unserer nächsten Etappe, zu gelangen, gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder mit dem Boot oder mit einem geländegängigen Fahrzeug über wilde Pfade durch den Wald. Das ging aber auch nur während der Trockenzeit, ansonsten verwandelten sich die Pisten in Schlammlöcher. Wir nahmen meistens das Boot. Es brachte uns auf dem Ucayali bis zur Mündung des Río Pachitea. Auf dem ging es flussaufwärts nach Tournavista. Die texanische Familie Le Tourneau gab diesem Urwalddorf den Namen. Hier übernachteten wir bei Bekannten auf dem Fußboden und suchten uns dann ein neues Boot für die Weiterfahrt. Noch heute wird im Urwald alles über die Flüsse transportier t – Menschen, Tiere, Gepäck, alle Arten von Ladung. Zwei weitere Tage tuckerten wir flussaufwärts. Nachts schliefen wir in Wolldecken gehüllt auf einer Sandbank, am nächsten Morgen ging es weiter. Erst am Abend des zweiten Tages kamen wir an die Mündung des Yuyapichis, an dem Panguana liegt. Der Name kommt aus der alten Inkasprache Quetschua und bedeutet »Lügender Fluss«, weil er manchmal so trügerisch sein kann. Scheint er gerade noch ein behäbiges, ruhiges Flüsslein zu sein, so kann er sich binnen weniger Stunden in einen reißenden Strom verwandel n – je nach den Niederschlägen im nahen Sira-Gebirge, wo der Yuyapichis seinen Ursprung nimmt.
Während unserer Fahrt dorthin passierten wir berüchtigte Stromschnellen, an denen man kentern konnte, war der Bootsführer nicht erfahren. Während der ganzen Fahrt machte meine Mutter nie auch nur ein Auge zu. Sie wollte nichts verpassen, und zu sehen gab es auch wirklich genug: Einmal schwamm ein Spießhirsch durch den Fluss, dann wieder Kaimane und Schlangen. Immer wieder wies sie ins Wasser und sagte zum Beispiel: »Schau, Juliane. Das ist ein Buschmeiste r – eine der giftigsten Schlangen der Welt. Sie sind sehr aggressiv. Vor ihnen musst du dich in Acht nehmen.«
Endlich kam dann die Mündung des Yuyapichis in Sicht. Hier gingen wir an Land und mussten uns noch weitere fünf Kilometer durch unberührten Primärregenwald durchschlagen. Es war ein scheußlicher Weg, voller Schlingpflanzen, die fast so hoch waren wie ich groß. Der Boden bestand aus tiefem Schlamm oder glitschigem Laterit, der bei starkem Regen glatt und rutschig wie Eis wurde. Hatten wir dieses Gebiet hinter un s – eine Woche nach der Abreise in Lim a –, gelangten wir endlich wieder an den Yuyapichis, auf dessen anderer Seite Panguana lag. Meine Mutter pfiff mit einer Polizeitrillerpfeife, und mein Vater kam mit dem Einbaum herüber, um uns abzuholen. Willkommen zuhause!
Doch ich greife vor. Meine Gedanken hüpfen wieder einmal meiner Erzählung voraus. Denn die kreisen ständig um Panguana, die Forschungsstation, die meine Eltern 1968 gründen sollten und die für viele Jahre meine Heimat wurde. Während ich müde, satt und glücklich über den Park von Miraflores blicke, froh, endlich hier zu sein, während ich mit Alwin und meinem Mann unseren Zeitplan für die nächsten beiden Tage durchgehe, der straffer nicht sein könnt e – zahlreiche Behördengänge stehen auf dem Programm, ein Besuch bei unserem Anwalt, um endlich unsere Sache ein entscheidendes Stück voranzubringe n –, während wir uns noch ein Dessert, ein Geschenk des Hauses, schmecken lassen, kreisen meine Gedanken um Panguana. Und ich gebe zu: So sehr ich es genieße, in Lima zu sein, so wenig kann ich es erwarten, endlich wieder in meinen geliebten Urwald zu dürfen.
Nein. Für mich war und ist er keine grüne Hölle. Er gehört zu mir wie die Liebe zu meinem Mann, wie die Rhythmen der Cumbia, die mir im Blut stecken, wie die Narben, die mir von dem Flugzeugabsturz geblieben sind. Der Dschungel ist der Grund, warum ich mich immer wieder in ein Flugzeug setze, und für ihn bin ich sogar bereit, mich mit den Behörden herumzuschlagen.
Das peruanische Wort für Bürokratie lautet Burocracia , und viele sagen schmunzelnd: Burrocraci a – darin steckt der spanische Burro, also der Esel. Und das ist kein Zufall. Hier im Andenstaat
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