Als ich vom Himmel fiel
Außerdem lebten meine Eltern mir von klein auf vor, dass man mit Ruhe und gründlichem Nachdenken fast alle Situationen, in die man in der Natur gerät, meistern kann. Und so ist es auch jetzt.
Ich zweifle nicht daran, dass ich aus diesem Urwald irgendwie herauskommen werde. Schon als Kind nahmen mich die Eltern mit in die Selva, und immer sind wir heil herausgekommen. Ich muss jetzt einfach meine Mutter finden. Doch wie? Fühle ich mich doch immer noch wie in Watte gepackt.
Wer noch nie im Regenwald war, für den kann er sich durchaus bedrohlich präsentieren. Er erscheint dann wie eine Mauer, durch die grün gefiltertes Licht einfällt, mit unendlich vielen Schatten in unterschiedlicher Dichte. Die Baumkronen befinden sich in schwindelnder Höhe, und das bewirkt, dass man sich unten auf dem Grund des Urwalds vorkommt wie ein winziges Wesen. Alles ist erfüllt von Leben, und doch bekommt ein ungeübtes Auge nur selten ein größeres Tier wirklich zu Gesicht. Es huscht, es raschelt, es flattert, es summt, gluckert, schnalzt, pfeift und kecker t – für viele dieser Laute gibt es gar keine Wort e –, und das ist oft noch viel beängstigender, als wenn man sehen kann, was da kreucht und fleucht. Frösche und Vögel machen die unglaublichsten Geräusche, und wenn man sie nicht kennt, kann man sie diesen Tieren oft nicht zuordnen, sie erscheinen manchem Menschen vielleicht sogar hämisch und bedrohlich. Und dann ist da diese enorme Feuchtigkeit. Selbst wenn es nicht regnet, tropft es besonders in den frühen Morgenstunden beständig auf einen herab. Auch die Gerüche des Urwalds sind ungewöhnlich, häufig riecht es nach dumpfer Fäulnis, nach den Pflanzen, die sich ineinanderschlingen und ranken, wachsen und wieder vergehen. In diesem Geranke können Schlangen sitzen, giftige und ungefährliche, perfekt getarnt, und oft hält man sie für einen Ast, nimmt sie überhaupt nicht wahr. Tut man es dann doch, befällt viele Menschen ein kreatürlicher, instinktiver Schrecken, der sie lähmt oder zur wilden Flucht treibt.
Und natürlich gibt es eine ungeheure Fülle an verschiedensten Insekten. Sie sind die wahren Herrscher des Urwalds. Heuschrecken, Wanzen, Ameisen, Käfer und Schmetterlinge in den prächtigsten Farben. Und viele Stechmücken, die gerne Menschenblut saugen, sowie Fliegen, die ihre Eier unter die Haut oder in Wunden legen. Stachellose Wildbienen, die einem zwar nichts tun, sich aber gerne in Horden auf schwitzende Menschenhaut setzen oder in den Haaren festkleben, wie mit Leim festgepappt.
Aber mein Vorteil war: Ich hatte lange genug im Urwald gelebt, um dies alles kennenzulernen, meine Eltern waren Zoologen, und es gab fast nichts, was sie mir nicht gezeigt hatten. Ich musste nur in meinem von der Gehirnerschütterung benebelten Kopf Zugang zu all diesem Wissen finden. Denn nun war es nicht mehr nur etwas, was ich eben nebenbei mitbekommen hatte. Jetzt war dieses Wissen überlebensnotwendig für mich.
Das ist auch der Grund, warum ich heute noch eingeladen werde zu Gesprächen, Fernsehterminen, ja sogar Survival-Trainings. Die am häufigsten gestellte Frage lautet: »Was muss man tun, wenn man im Urwald verunglückt?«
Ich kenne mich zwar im peruanischen Regenwald aus, vielleicht auch im Amazonas-Regenwald, aber damit hört es auch schon auf. Was man im Urwald fürs Überleben tun sol l – das kann man leider nicht pauschal sagen. Urwälder haben die Eigenart, ganz unterschiedlich zu sein, in jedem herrschen andere Gesetze. Wenn irgendwo ein Flugzeug abstürzt, dann steht bei mir das Telefon nicht mehr still. Das Schicksal hat mich anscheinend zu einer Expertin fürs Überleben von Flugzeugkatastrophen werden lassen, und darum muss ich immer wieder Auskunft geben. Als vor einigen Jahren eine junge Frau im Dschungel des Kongo verschwand, da fragte mich eine Journalistin: »Was würden Sie ihr raten? Wie soll sie sich verhalten?«
Da musste ich die enttäuschende Antwort geben: »Ich war noch nie im Kongo, ich müsste erst vor Ort sehen, wie es da aussieht, welche Tiere es dort gibt, welche Pflanzen. Jeder Urwald ist anders.« Außerdem entspricht es ganz und gar nicht meinem Wesen, anderen Menschen zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Ich wäre die Letzte, die dieser jungen Frau gesagt hätte, was sie zu tun hat, ich weiß viel zu gut aus meiner eigenen Erfahrung, dass jede Situation neue Entscheidungen verlangt.
Jene Reporterin drehte mir dann meine Antwort im Mund herum und schrieb, ich
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