Als ich vom Himmel fiel
die Suchflugzeuge niemals finden. Ich höre noch die Stimme meines Vaters, der mir immer wieder sagte: »Wenn du dich im Urwald verläufst, und du findest einen Wasserlauf, dann bleib bei ihm, folge seinem Lauf. Er wird dich zu Menschen bringen.«
Später wurde mir in der Presse vorgeworfen, ich sei ganz egoistisch einfach weggegangen, ohne mich um Verletzte zu kümmern. In anderen Zeitungen stand gar, die Überlebenden seien schreiend und weinend im Wald herumgeirrt, und ich hätte mich allein aus dem Staub gemacht. Die Wahrheit ist, ich fand keine Überlebenden. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich tatsächlich verletzte Mitreisende und womöglich meine Mutter gefunden hätte. Wahrscheinlich wäre ich bei ihnen geblieben und gemeinsam mit ihnen zugrunde gegangen. Heute wissen wir, dass man die Wrackteile ohne meine Angaben niemals gefunden hätte.
Ich folge also dem Rinnsal, und das ist zunächst gar nicht so einfach, denn immer wieder liegen Baumstämme kreuz und quer, oder dichtes Gestrüpp versperrt mir den Weg. Nach und nach wird das Rinnsal breiter und schließlich zu einem Bach in einem richtigen Bett, das teilweise trocken ist, sodass ich relativ bequem an dem inzwischen rund 5 0 Zentimeter breiten Wasserlauf entlanggehen kann. Wie weit ich an diesem ersten Nachmittag komme? Ich kann es nicht sagen. Gegen sechs Uhr wird es dunkel, und ich suche mir am Bachbett eine geeignete, im Rücken geschützte Stelle, an der ich die Nacht verbringen kann. Ich esse ein weiteres Fruchtbonbon, dann schlafe ich erschöpft ein.
Inzwischen erreichte die Nachricht vom Absturz der LANSA die Familie Módena an der Mündung des Río Yuyapichis. Don Elvio, Moros Onkel, macht sich auf den Weg zu meinem Vater. Doch der schüttelt nur den Kopf: »Meine Frau und meine Tochter können unmöglich an Bord dieser Maschine gewesen sein«, sagt er voller Überzeugung. »Ich habe ihnen extra noch eingeschärft, auf keinen Fall mit der LANSA zu fliegen. Meine Frau hätte niemals dieses Flugzeug bestiegen!«
Don Elvio weiß nicht, was er sagen soll, er hofft, mein Vater habe recht.
Am anderen Tag schaltet mein Vater das Radio ein. In einer Sondermeldung wird die Passagierliste der abgestürzten Maschine verlesen. Welch ein Schock muss es für meinen Vater gewesen sein, als er die Namen seiner Frau und seiner Tochter unter den Opfern vernahm. Bis heute kann ich mir nur schwer vorstellen, welche Hölle er durchgemacht haben muss, dort, ganz allein in Panguana.
Ich erwache am 26 . Dezember und stelle fest, ich habe gut geschlafen. Dennoch fühle ich mich apathisch, das macht wohl noch immer die Gehirnerschütterung. Ich habe keine Angst und fühle keine Schmerzen, ich weiß nur eines: Ich muss hier raus.
Also folge ich weiter dem Bach. Ich komme langsam voran, immer wieder muss ich über Baumstämme klettern, außerdem mäandriert der Bach stark. Das kostet mich Zeit und Kraft. Doch da ich ohne Brille nicht gut in die Ferne sehe, wage ich es nicht, ein paar Schlaufen abzukürzen. Das Risiko, mich zu verlaufen, ist einfach zu groß. Außerdem ist das Gelände extrem hügelig, ständig geht es bergauf und wieder bergab, ich komme mitunter an Abhängen vorbei, die 30 oder gar 4 0 Meter hoch aufsteigen, nur hier, wo ich gehe, hat sich das Wasser den einfachsten, leicht abfallenden Weg gesucht, und ich folge ihm, komme langsam aber stetig in seinem Lauf voran.
Einmal begegnet mir eine imposante Vogelspinne, die mich anspringen und beißen könnte. Doch sie ist auf der anderen Seite des Baches unterwegs, wir beäugen uns vorsichtig und ziehen dann jede unseres Wegs.
Das Bachbett ist steinig und flach, der Wasserlauf wird zunehmend breiter, schließlich füllt er sein gesamtes Bett aus. Ich beginne, im Wasser zu waten, immer den Fuß mit der Sandale zuerst aufsetzend. Immer wieder höre ich die Suchflugzeuge über mir kreisen. Ich rufe, obwohl ich weiß, wie vergeblich das ist. Noch immer befinde ich mich in zu dichtem Wald. Ich bin unsichtbar für die Retter, und es gibt keine Möglichkeit, das zu ändern. Meine einzige Chance ist es, weiterzugehen und irgendwann zu einem breiteren Fluss zu gelangen, wo sich das geschlossene Kronendach der Urwaldbäume öffnen wird und ich mich den Flugzeugen bemerkbar machen kann. Vielleicht finden sie die anderen, denke ich, vielleicht ist meine Mutter unter den Geretteten. Ich klammere mich an diesen Gedanken. So wenig verletzt wie ich bin, scheint es mir unmöglich, dass nicht auch andere den
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