Als ich vom Himmel fiel
Deutlichkeit wird mir bewusst, dass ich allein bin. Meine Mutter ist verschwunden, die doch eben noch neben mir saß. Ihr Platz ist leer. Auch von dem beleibten Herrn, der sofort nach dem Start eingeschlafen war, fehlt jede Spur.
Ich versuche mich aufzurichten, aber es gelingt mir nicht, sofort wird mir wieder schwarz vor Augen. Ich habe wohl eine schwere Gehirnerschütterung, fühle mich hilflos und mutterseelenallein.
Instinktiv schaue ich auf meine goldene Konfirmationsuhr, sie funktioniert noch, ich kann ihr feines Ticken hören, doch es fällt mir schwer, das Zifferblatt abzulesen. Ich kann nicht richtig sehen. Nach einer Weile stelle ich fest, dass mein linkes Auge vollständig zugeschwollen ist. Und durch das andere sehe ich nur wie durch einen schmalen Schlitz. Außerdem ist meine Brille verschwunden. Seit ich 14 bin, trage ich die Brille, auch wenn ich sie nicht besonders mag. Jetzt ist sie weg. Dennoch gelingt es mir endlich, die Zeit abzulesen. Es ist neun Uhr, dem Sonnenstand nach ist es Morgen. Wieder wird mir schwindelig, und ich lege mich erschöpft zurück auf den Urwaldboden.
Was ich nicht weiß: Inzwischen hat die größte Suchaktion in der Geschichte der peruanischen Luftfahrt begonnen. Schon seit dem vergangenen Nachmittag ist ganz Pucallpa in höchster Aufregung. Die Innenstadt war am Nachmittag und Abend des 24 . Dezember vollkommen ausgestorben, weil die Menschen den Flughafen und sogar die Landebahnen belagerten. Nachdem die LANSA-Maschine von einem Augenblick auf den anderen vom Radarschirm verschwunden war, kurz nachdem sie einen letzten Funkspruch bei Oyón, ungefähr 1 5 Flugminuten von Pucallpa entfernt, gesendet hatte, fehlte von ihr jede Spur. Widersprüchliche Informationen verwirren und ängstigen die Angehörigen, die Hoffnung, die Maschine sei an einem anderen Ort notgelandet, wird jäh enttäuscht. Irgendwann kann keiner mehr die Augen davor verschließen, dass die Maschine verschollen ist, allem Anschein nach abgestürzt in dem schweren Unwetter, das bis nach Pucallpa zu spüren war. Auch Heinrich Maulhardt, ein Freund unserer Familie, der meine Mutter und mich vom Flughafen abholen wollte, ist unter den Wartenden. Er hat nun die schwere Aufgabe, meinem Vater im fernen und unzugänglichen Urwald die schlimme Nachricht zukommen zu lassen.
Nach einer Weile versuche ich erneut, mich aufzurichten, komme irgendwie auf die Knie, aber dann wird mir wieder schwarz vor Augen und derart schwindelig, dass ich mich augenblicklich wieder hinlege. Ich versuche es wieder und wieder, und irgendwann gelingt es mir. Nun entdecke ich die Verletzungen, die ich mir zugezogen habe: Mein rechtes Schlüsselbein fühlt sich komisch an, ich taste es ab, offenbar ist es gebrochen, aber die beiden Enden haben sich übereinandergeschoben und durchbohren die Haut nicht, es tut überhaupt nicht weh. Dann entdecke ich an meiner linken Wade eine vielleicht vier Zentimeter lange und tief gezackte Schnittwunde, die wie ein Canyon aussieht, schartig an den Rändern, als ob sie eine grobe Metallkante gerissen hat. Aber das Seltsame ist, sie blutet überhaupt nicht.
Und dann, auf einmal, fühle ich erneut die Abwesenheit von anderen Menschen. Da ist niemand, ich weiß es. Auch nicht meine Mutter. Aber warum? Sie saß doch neben mir! Ich lasse mich auf alle viere nieder und krabble umher. Suche nach ihr. Rufe ihren Namen. Aber nur die Stimmen des Urwalds geben mir Antwort.
7 Allein im Urwald
Kapitelanfang
Später erzählten mir die Einwohner von Puerto Inca, einer Urwaldstadt, die von der Stelle, wo ich mich nach dem Unglück am Boden wiederfand, in Luftlinie gemessen nur rund 2 0 Kilometer entfernt ist, dass an jenem Tag ein fürchterlicher Sturm mit extrem starken Winden geherrscht hatte. Es gibt Menschen, die wollen ein Flugzeug gehört haben, wie es über der Stadt kreiste und dann Richtung Urwald verschwand. Ob der Pilot erwogen hatte, in Puerto Inca notzulanden? Ich bezweifle es. Denn die Trümmer wurden ziemlich genau auf der Route, die das Flugzeug normalerweise nahm, gefunden. Der Pilot wich also vom Kurs nicht ab.
Durch Werner Herzog erfuhr ich später von den kurz vor dem Unglück im Cockpit aufgezeichneten Gesprächen, denn man fand irgendwann sogar die Blackbox unter den Trümmern. Die Piloten plauderten über das bevorstehende Weihnachtsfest, über ihre Kinder und Familien und wie sehr sie hofften, so schnell wie möglich nach Lima zurückzukehren. Offenbar hatte sie das tödliche Unwetter
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