Als ich vom Himmel fiel
als bei anderen Vögeln. Natürlich kann ich das nur wissen, weil meine Mutter Ornithologin ist und sie es mir erklärt hat, und ich hoffe und bete, dass nicht sie der Grund für die Anwesenheit des Königsgeiers ist. Denn der Condor de la Selva tritt immer dann in Aktion, wenn wirklich großes Aas im Wald zu finden ist. »Die Königsgeier dort, die fressen die Toten.« Es ist nicht mal ein Gedanke, eher eine Ahnung oder mehr noch eine Gewissheit.
Und zum ersten Mal, seit ich allein im Urwald unterwegs bin, graust es mich. Ich komme um die nächste Flussbiegung, und da sehe ich es. Eine Dreiersitzbank, genau wie meine, nur ist diese hier kopfüber ungefähr einen Meter tief in die Erde gerammt. Auch die Köpfe der Passagier e – es sind zwei Männer und eine Fra u – stecken dort im Urwaldboden, nur ihre Beine ragen grotesk nach oben. Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich zuvor eine Leiche gesehen. Damals war ich sechs Jahre alt und zu Besuch in Pucallpa. Meine Mutter ging Vögel beobachten und ließ mich in der Obhut von Freunden, die ein Sägewerk besaßen. Diese nahmen mich mit zu den Nachbarn, bei denen in der Nacht ein Kind gestorben war. Wir erschienen zum »Velorio«, so nennt man den Tag, an dem man einen Toten aufbahrt und die Freunde und Bekannten kommen, um ihm den letzten Gruß zu erweisen. Dort lag also das Kind mit aufgetriebenem Bauch. Damals sah ich mir das alles interessiert an, so wie nur Kinder unbefangen dem Tod gegenüberstehen können. Als meine Mutter am Abend heimkam, da erzählte ich: »Du, heute hab ich was erlebt! Ich hab ein totes Kind gesehen!« Meine Mutter aber war ganz aufgeregt, ja, ich wurde sogar ausgeschimpft, dass ich da überhaupt mitgegangen war, denn das Kind starb womöglich an Gelbfieber oder Typhus, und ich hätte mich anstecken können.
Damals als Kind habe ich das Ganze eher wie eine interessante Neuigkeit bestaunt. Doch heute geht mir der Anblick der Toten durch und durch. Ein namenloses Grauen fasst mich an. Dennoch zwinge ich mich, zu bleiben und mir die Leichen genauer anzusehen. Noch sind sie intakt, doch in den Bäumen sitzen die Königsgeier. Sie warten. Es ist kein gutes Gefühl. Ein schrecklicher Gedanke fährt mir durch den Kopf. Was, wenn das meine Mutter ist? Ganz langsam, vorsichtig gehe ich zu den Leichen. Ich betrachte die Frauenfüße, als könnte ich an ihnen erkennen, um wen es sich handelt. Sogar ein Stöckchen ergreife ich, und mit ihm drehe ich vorsichtig den Fuß so, dass ich die Zehennägel erkennen kann. Sie sind lackiert, ich atme auf. Denn meine Mutter lackiert ihre Nägel nie.
Im selben Moment wird mir bewusst, wie dumm das von mir ist. Diese Frau kann gar nicht meine Mutter sein, denn sie saß ja auf meiner Sitzbank direkt neben mir. Wieso bist du da nicht gleich draufgekommen, denke ich. Und bin erleichtert. Später werde ich mich dafür schämen.
Ich sehe mich um, ob hier vielleicht noch mehr Tote oder gar Verletzte sind. Ein paar Metallteile liegen verstreut herum, sonst nichts. Und so wende ich mich ab und gehe weiter. Wieder höre ich die Suchflugzeuge. Ich weiß, ich muss mich beeilen.
8 Pucallpa heute
Kapitelanfang
Heute landen wir sicher auf dem kleinen Flugplatz, der damals Schauplatz für so viele verzweifelte Szenen war. Moro erwartet uns, und wie jedes Mal fallen wir uns in die Arme. Wir sind beide nicht jünger geworden, sein einst so schwarzer Vollbart ist nun von silbernen Fäden durchzogen. So vieles haben wir miteinander erlebt! Und dennoch, gemäß der Sitte, nennt mich Moro selten bei meinem Vornamen. Vor anderen Leuten redet er mich stur und mit einer Prise Stolz mit »La Doctora« an. Sind wir alleine mit seiner Familie, bin ich »La Vecina«, die Nachbarin, seine Frau Nery macht daraus ein zärtliches »Vecinita«, mit dem ich auch sie tituliere.
An der Stelle, wo die Zufahrtsstraße zum Flughafen in die Carretera mündet, liegt der Friedhof. Über der Mauer kann man die höheren Grabmonumente erkennen, darunter ein besonders großes. Es ist das Grabmal zum Gedächtnis der Opfer des Absturzes der LANSA, und hier sind 54 der Verunglückten in den traditionellen »nichos«, den Begräbnisnischen, beerdigt. Zwei Engel stehen ganz oben auf dem riesigen Quader, der die Särge birgt, einer weint, und der andere tröstet einen Trauernden. Zwischen ihnen befindet sich eine runde Tafel. Auf ihr ist eine stilisierte Landkarte abgebildet mit dem Relief eines abgestürzten Flugzeugs, gestrichelte Linien markieren den Weg,
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