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Als ich vom Himmel fiel

Als ich vom Himmel fiel

Titel: Als ich vom Himmel fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliane Koepcke
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schlafe. Denn seit meine Gehirnerschütterung nachgelassen hat, falle ich nicht mehr in jenen schlafähnlichen Zustand, der eher einer Betäubung gleicht. Meine Nächte sind lang, stockfinster, und ich finde keine Ruhe.
    Wenn die Sonne sinkt und ich die Zeit auf etwa fünf Uhr schätze, dann suche ich mir einen halbwegs geschützten Platz am Ufer, an dem ich die Nacht verbringen kann. Ich versuche immer eine Stelle zu finden, an der ich Schutz im Rücken habe, entweder durch eine leichte Böschung oder einen großen Baum. Dennoch ist an Schlaf kaum zu denken. Entweder halten mich Moskitos wach oder winzige quälende Gnitzen, die ebenfalls zu den Mücken gehören und die mich bei lebendigem Leibe geradezu aufzufressen scheinen. Um meinen Kopf summt es, die lästigen Plagegeister versuchen, mir in Ohren und Nase zu kriechen. Unerträglich sind diese Nachtstunden, wenn ich todmüde in einen Dämmerschlaf falle und immer wieder vom Brennen und Beißen neuer Stiche erwache. Oder, und das ist sogar noch schlimmer, es regnet. Dann lassen mich zwar die Moskitos in Ruhe, doch der eiskalte Regen prasselt unbarmherzig auf mich nieder. Ich friere in meinem dünnen Sommerkleid, bin ständig bis auf die Haut durchnässt. So heiß es tagsüber auch sein mag, während der Regenzeit kühlt es nachts drastisch ab, und jeder der harten Tropfen quält mich wie ein eisiger Nadelstich. Und dann kommt der Wind und lässt mich bis ins Mark erschauern. Ich suche mir Plätze unter dichten Bäumen oder im Gebüsch, sammle große Blätter, versuche mich damit zu schützen. Es hilft alles nichts. In diesen schwarzen Nächten, die kein Ende zu nehmen scheinen, wenn ich bis auf die Knochen durchnässt irgendwo kauere, mich nicht schützen kann, da steigt ein grenzenloses Gefühl der Verlassenheit in mir auf. Als sei ich irgendwo im Universum ganz allein unterwegs. Dies sind Momente, in denen ich verzweifle.
    Ich denke viel an meine Mutter. Wie es ihr wohl gehen mag? Ob sie schon gerettet wurde? Ich wage nicht daran zu denken, sie könnte dasselbe Schicksal erlitten haben wie die drei Menschen, die mitsamt ihrer Sitzbank in den Boden gerammt worden waren. Ich frage mich, was mein Vater jetzt wohl tut? Wie es ihm geht? Wo er sich aufhält? Ob er vom Absturz schon gehört hat?
    Ich grüble viel darüber nach, wie es geschehen konnte, dass ich allein im Urwald erwachte, wo all die anderen Passagiere sind, wieso ich nirgendwo eine Schneise im Wald erkennen konnte, wo denn um alles in der Welt das Flugzeug selbst abgeblieben ist. Ich denke über mein bisheriges Leben nach, das so völlig unspektakulär verlief, jedenfalls in meinen Augen hat sich bislang nicht wirklich etwas Aufregendes ereignet. Ich bin ein junges Mädchen wie alle anderen auch, liebe Tiere, lese für mein Leben gern, gehe mit meinen Freundinnen ins Kino, habe ein gutes Zeugnis, passe mich an, wo immer man mich hinschleppt, sei es im Urwald, sei es in Lima. Ich habe mir nie viele Gedanken über den Sinn meines Lebens gemacht, ich bin zwar evangelisch getauft und wurde erst kürzlich konfirmiert, aber meine Eltern, die mehr einer Art philosophischer Naturreligion anhängen und als Grund allen Lebens die Sonne ansehen, haben mich nicht ausdrücklich religiös erzogen. Sie finden, ich solle mir selbst eine Meinung bilden; die Grundlagen für eine christliche Erziehung gaben sie mir allemal, mehr war ihrer Meinung nach nicht nötig.
    In jenen Nächten bete ich. In diesen Gebeten geht es hauptsächlich um meine Mutter. Ich hatte immer ein sehr enges Verhältnis zu ihr, sie ist meine Mutter und eine Art Freundin, wir sind inniger miteinander verbunden, als ich es mit meinem Vater bin, der außer meiner Mutter kaum einen Menschen wirklich an sich heranlässt. Mir ist bewusst, dass es ein Wunder ist, dass ich noch lebe, und ich frage mich, warum gerade ich. Ich habe den Absturz überlebt, und ich finde, dass ich jetzt auch dies hier durchstehen muss, ich bete darum, dass ich Menschen finde, ich bete um meine Rettung. Ich will leben, mit allen Fasern meines langsam schwächer werdenden Körpers will ich leben, und dann überlege ich, was ich anfangen werde mit diesem Leben, wenn dies hier endlich vorbei sein wird.
    Darüber denke ich lange nach.
    Sicherlich, wie alle meine Freundinnen habe ich mir schon Gedanken gemacht, was ich nach der Schule machen werde. Von klein auf wollte ich Biologie studieren, so wie meine Eltern. Doch warum und wieso, das habe ich mich nie gefragt. Ich mochte Tiere,

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