Als ich vom Himmel fiel
stehe ich am Ufer des großen Flusses. Ich schätze seine Breite auf zehn Meter, ein schönes Gewässer, doch keine Menschenseele ist zu sehen. Sofort erkenne ich, dass er nicht schiffbar sein kann, denn zahlreiche Baumstämme und anderes Treibholz machen das unmöglich. Ich sehe zum Himmel empor. Seit so vielen Tagen im Dämmerlicht des Dschungels sehe ich ihn endlich wieder frei über mir. Wo sind die Suchflugzeuge? Ich höre sie nur noch in der Ferne. Einmal schlägt eines noch einen halbherzigen Bogen über mir, ich winke und rufe, doch vergebens. Es dreht ab und verschwindet, so wie die anderen. Stille. Sie werden zurückkommen, sage ich mir, ganz bestimmt. Doch die Zeit vergeht, und das Motorengeräusch, das ich während der vergangenen Tage fast ständig hörte, kehrt nicht wieder. Endlich begreife ich: Sie haben die Suche offenbar aufgegeben. Wahrscheinlich sind alle anderen gerettet worden, nur nicht ich. Nicht ich.
Eine grenzenlose Wut überkommt mich, ich hatte keine Ahnung, dass ich noch die Kraft habe für solch heftige Gefühle. Wie können die einfach abdrehen, jetzt, wo ich nach all den Tagen endlich ein offenes Gewässer erreicht habe! Jetzt, wo ich mich bemerkbar machen kann! Doch so schnell, wie die Wut aufflammt, erlischt sie und macht einer ungeheuren Verzweiflung Raum. Hier stehe ich, am Ufer eines wirklich großen Flusses, und fühle mich mutterseelenallein. Die Weite des Urwalds um mich wird mir erst jetzt, wo ich ein bisschen Abstand zu ihm habe, mit aller Deutlichkeit bewusst. Ich befürchte, dass er über Tausende von Quadratkilometern hinweg unbewohnt ist. Ich weiß, dass es ein äußerst seltener Zufall ist, hier einem Menschen zu begegnen. Ich ahne, dass meine Chancen gegen Null gehen. Doch ich gebe nicht auf.
Immerhin ist dies ein richtiger Fluss. Und wo ein Fluss ist, da sind Menschen nicht weit, das hat mein Vater immer wieder gesagt. Früher oder später, so mache ich mir jetzt selbst Mut, wirst du sie erreichen, Juliane. Es gibt keinen Grund, gerade jetzt zu verzweifeln. Im Gegenteil. Deine Rettung ist ganz nahe.
Ich reiße mich zusammen. Überlege, wie ich am besten weiterkomme. Das Flussufer ist viel zu dicht bewachsen, als dass ich daran entlang weiterwandern könnte. Außerdem fürchte ich, ohne Brille mit meinem nackten Fuß möglicherweise auf eine giftige Schlange oder Spinne zu treten. Ich beginne, im seichteren Uferwasser flussabwärts zu waten. Vorher aber suche ich mir einen Stock, zum einen, um nicht auszurutschen, aber auch, um den Grund vor mir abzutasten. Ich weiß, es gibt gefährliche Stachelrochen, die im Uferschlamm der Flüsse ruhen oder in Stromschnellen liegen und nicht zu sehen sind. Tritt man auf sie, schlagen sie einem ihren giftigen Stachel in den Fuß. Das Bein schwillt stark an, man bekommt hohes Fieber. Das Gift des Stechrochens ist zwar nicht tödlich, aber häufig gelangt mit dem Stachel Schmutz in die Wunde, und das kann zu Blutvergiftungen führen. In meiner Situation könnte eine solche Verletzung fatal enden. Das alles habe ich in Panguana von meinen Eltern und unseren Nachbarn gelernt. Ich kenne die Gefahren im Wasser, und darum gehe ich vorsichtig und sehe mich vor. Doch das Vorankommen ist sehr mühsam, Geäst und viele Baumstämme liegen im Wasser, der Grund besteht entweder aus glitschigen Steinen oder tiefem Morast, in den ich einsinke. Darum beschließe ich bald, in der Mitte des Flusses zu schwimmen. In tiefem Wasser bin ich wenigstens vor den Stachelrochen sicher. Dafür gibt es Piranhas, doch ich habe gelernt, dass die nur in stehenden Gewässern gefährlich werden. Sicherlich ist mit Kaimanen zu rechnen, doch auch sie greifen in der Regel Menschen nicht an. Also überlasse ich mich der Strömung. Noch immer habe ich keine Angst. Und die Zuversicht, es irgendwie zu schaffen, ist wieder zurückgekehrt.
Es ist gut, dass ich nicht weiß, sondern nur ahne, dass sie die Suche nach Überlebenden bald einstellen werden. Außerdem ist es besser, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass niemand bislang gerettet wurde, ja dass die Suchenden nicht die geringste Spur von dem Flugzeugwrack finden konnten. Aber am wichtigsten von allem ist, dass ich nicht weiß, dass außer mir tatsächlich einige Menschen den Absturz überlebten, ohne in der glücklichen Lage zu sein, den Ort, an dem sie auf der Erde aufprallten, verlassen zu können. Meine Mutter gehörte zu diesen Menschen. Und an meine Mutter denke ich in jeder meiner Nächte, in denen ich kaum
Weitere Kostenlose Bücher