Als ich vom Himmel fiel
anders war als im Urwald, vielleicht weil ich meine Trauer immer noch nicht richtig zulassen konnt e – ein neuerlicher Rückfall fand keineswegs statt. Vielmehr machte ich Pläne für den kommenden Sommer, und möglicherweise war dies meine Art, mein Heimweh zu kompensieren. Und so schrieb meine Tante an meinen Vater, dass ich gerne in den kommenden Sommerferien 1973 Panguana besuchen wollte.
Eigentlich das Normalste von der Welt, sollte man meinen: Die Tochter will in den Sommerferien nach Hause zurückkehren. Tat ich nicht alles, was mein Vater von mir erwartete? Hatte ich nicht trotz meiner schweren Erkrankung das fremde Schulpensum mit Bravour gemeistert und sogar eine Klasse übersprungen? In den Briefen meiner Tante, die sie in meinem ersten Jahr in Deutschland an meinen Vater schrieb, lese ich immer wieder wie ein wiederkehrender Refrain: »Juliane muss in diesen Wochen sehr hart für die Schule arbeiten.« Seltsam, ich erinnere mich gar nicht mehr daran, dass ich so viel tun musste. Mit Sicherheit war dies für mich die beste Art, das Überstandene hinter mir und kein Heimweh aufkommen zu lassen.
So langsam war ich in Kiel also angekommen, nicht nur äußerlich, sondern auch mit meinem Herzen. Ich war gesundheitlich so weit wiederhergestellt und freute mich darauf, Panguana und meinen Vater wiederzusehen. Bis ich mir ausrechnete, wie wenig von meinen fünf Wochen Sommerferien übrig bleiben würde, zog ich die lange und beschwerliche Reise ab. Meine Tante riet mir sanft davon ab, sprach davon, welch eine Strapaze da auf mich wartete. So viel Zeit in Flugzeugen für gute zwei Wochen Panguana. Bei der Vorstellung, wieder fliegen zu müssen, bekam ich ohnehin eine Gänsehaut. Und als mich meine Großmutter mütterlicherseits drängte, sie doch endlich am Starnberger See besuchen zu kommen, da gab ich meinen Plan, nach Peru zu fahren, allmählich auf.
Was ich nicht wusste, war, dass mein Vater es mir sowieso untersagt hatte, zu kommen. Im Nachlass meiner Tante fand ich einen Brief, der mir das Blut in den Adern stocken ließ. Während mein Vater verschiedene Besuche von Zoologen guthieß, schrieb er: »Erschrocken bin ich darüber, dass Juliane schon wieder hierherkommen will. Ich halte das auf keinen Fall für ratsam. Bitte rede ihr diese Sache aus; es gibt zu viele Dinge, die ihre Reise hierher als nicht geraten erscheinen lassen. Falls Marias Bruder kommen will, so soll er es tu n … Er soll bedenken, dass ich hier kein Personal habe und dass hier keine Sommerfrische ist. Sollte Juliane gegen meinen Willen hier auftauchen, dann wird sie etwas erleben, was sie sich nicht gedacht hat.«
Meine Tante antwortete darauf: »Juliane hat ihre Peru-Reisepläne schon von selbst aufgegeben, als sie bemerkte, dass sie höchstens 1 7 Tage in Panguana hätte sein können, denn die Ferien sind ja nur fünf Wochen lang. Du brauchst gar nicht mit Donnerworten zu drohen, wie im Brief vom 30.12., das würde sie nur in ihrem mühsam gewonnenen und leicht erschütterbaren seelischen und körperlichen Gleichgewicht bedrohen. Ich habe ihr davon deswegen auch gar nichts erzählt.«
Erst jetzt, fast 4 0 Jahre später, erfahre ich also davon und frage mich: Warum wollte mein Vater mich nicht sehen? Welche »Dinge« ließen meinen Besuch als »nicht geraten erscheinen«? Konnte er meine Gegenwart nicht ertragen? Nahm er es mir übel, dass ich lebte und meine Mutter nicht?
Selbst nach so vielen Jahren tut mir sein grob formuliertes Verbot, nach Hause zu kommen, noch weh. Aber was noch seltsamer ist: Bis ich diesen Brief vor wenigen Wochen fand, hatte ich völlig verdrängt, dass ich damals überhaupt je erwogen hatte, nach Panguana zu reisen. Hätte man mich gefragt, ich hätte es mit dem Brustton der Überzeugung verneint. Und doch, hier steht es, schwarz auf weiß. Warum habe ich das so vollständig vergessen?
Und warum gab ich diesen Plan freiwillig wieder auf? 1 7 Tage sind nicht so wenig, wenn man tatsächlich großes Heimweh hat. Habe ich auch ohne Worte selbst über die große Entfernung gespürt, dass ich bei meinem Vater nicht willkommen sein würde? Ich weiß es nicht und werde es nicht mehr erfahren. Mein Vater verstarb im Jahr 2000. Wieso versäumt man so oft, die wichtigen Fragen rechtzeitig zu stellen?
Und doch, ich kann meinem Vater nicht wirklich böse sein. Sein Weihnachtsbrief an mich, den er bereits Ende November 1972 schrieb, damit er auch rechtzeitig bei uns ankam, beginnt mit folgenden Sätzen:
»Liebe
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