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Als ich vom Himmel fiel

Als ich vom Himmel fiel

Titel: Als ich vom Himmel fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliane Koepcke
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besorgten die Redakteure mithilfe ihres Büros in Lima innerhalb von drei Stunden die Passagierliste der LANSA-Maschine. Auch über die Rettungsaktion wurde Tante Cordula von den Kollegen auf dem Laufenden gehalten. In einem Dankesbrief schreibt sie: » … die Mitteilung von der Auffindung meiner Nichte Juliane am späten Abend des 4 . Januars 1972 war für die in Deutschland lebenden Familienangehörigen, für die ich spreche, von außerordentlicher Bedeutung.« Ich finde es heute noch spannend, wie schwierig es damals war, verlässliche Informationen zu bekommen, und wie findig und gut vernetzt meine Tante doch war.
    Ja, diese ersten Wochen in Kiel verbrachte ich wie betäubt. Ich fühlte mich nicht wohl, mir war andauernd schlecht, und so ließ ich alles einfach über mich ergehen. So überstürzt, wie ich gekommen war, musste man ja erst einmal eine Schule für mich finden, in der ich mein Abitur machen konnte. Ich hatte Glück, denn der Mann einer Verwandten meiner Mutter war Direktor des Gymnasiums Wellingdorf in Kiel, das als erste Schule weit und breit bereits die Studienstufe, also eine reformierte Oberstufe, eingeführt hatte. Er bot mir an, direkt in die elfte Klasse einzusteigen, man würde dann schon sehen, ob ich mitkäme. In der Tat war die Kollegstufe einfacher für mich, so konnte ich die Fächer wählen, die mir am besten lagen. In Lima begann das Schuljahr allerdings im April und hier im Herbst, ich platzte also mitten in den laufenden Unterricht hinein, was ich ganz furchtbar fand.
    Der erste Schultag war auch entsprechend: Ich fand nicht gleich das richtige Klassenzimmer und kam deshalb zu spät. Der Lehrer schimpfte: »Erst neu sein und dann auch noch zu spät kommen!« Außerdem musste ich mich erst an die deutschen Gepflogenheiten anpassen; in Lima stand man zum Beispiel auf, wenn man drankam, um etwas zu sagen. Das gewöhnte ich mir allerdings schnell ab, nachdem ich damit in der Klasse für allgemeine Heiterkeit gesorgt hatte.
    Von den anderen Schülern wurde ich sofort freundlich aufgenommen und hatte gleich einen richtig netten Kreis an Freundinnen. Natürlich wusste man auch hier, wer ich war und was ich erlebt hatte, und neugierige Fragen blieben nicht aus. Es fiel mir schwer, über die ganze Sache zu sprechen, vor allem, seit ich auch noch aus meinem Heimatland Peru »verbannt« worden war. Doch alle Menschen in meiner neuen Umgebung bemühten sich, mir die Umstellung so leicht wie möglich zu machen. Dennoc h – es war einfach zu viel, was in den letzten Wochen auf mich eingeströmt war, und mein Körper machte mir einmal mehr klar, dass noch längst nicht alles überstanden war.
    Seit damals in Yarinacocha mein Knie angeschwollen war, hatte ich große Schmerzen beim Gehen. Meine Tante brachte mich zu einem Orthopäden, der sich das ansehen sollte. Der schaute mir nicht nur aufs Knie, sondern auch ins Gesicht und meinte: »Sie haben ja ganz gelbe Augen! Ich überweise Sie sofort in ein Krankenhaus zur Untersuchung!« Dort behielten sie mich auf der Stelle da und steckten mich auf die Isolierstation, denn ich hatte nicht nur einen Kreuzbandriss, sondern auch eine ausgewachsene Hepatitis. Meine Leber war geschwolle n – das war die Ursache für meine ständige Übelkeit.
    Da lag ich also, und im Grunde war es mir recht. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben, und die hatte ich jetzt auch. Ich musste streng Diät halten, aber auch das war mir egal. Ja, es gefiel mir im Krankenhaus.
    Die Ärzte und Schwestern waren freundlich, ich hatte eine quirlige Zimmergenossin, ich fühlte mich geborgen wie schon lange nicht mehr. Von mir aus, dachte ich, bleib ich für immer hier. Ist es nicht seltsam, dass ich erst in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste, um endlich zur Ruhe zu kommen? Aber all das, was hinter mir lag, hatte mich überwältigt. In Yarinacocha war trotz der erholsamen Umgebung noch zu viel auf mich eingeströmt: Da waren die Journalisten, da waren die täglichen Neuigkeiten von der Bergung der Leichen, die grausigen Nachrichten und die Erkenntnis, dass ich die einzige Überlebende war. Und schließlich die Sache mit dem Tod meiner Mutter. Da war außerdem die unmerkliche Spannung zwischen mir und meinem Vater, seine Trauer, die er nicht zeigen, aber auch nicht verbergen konnte. Da war so viel Unausgesprochenes zwischen uns geblieben und schließlich mein überstürzter Abschied von Peru, den ich immer noch nicht verwunden hatte. Jetzt hatte ich Zeit, jetzt hatte ich die Ruhe,

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