Als ich vom Himmel fiel
jene freundlichen Missionare in Yarinacocha, in deren Häusern ich mich nach meiner Rettung erholen durfte. Einmal hatte ich dabei ein denkwürdiges Erlebnis.
Ich wurde von einer der Linguisten-Familien privat in ihr Haus eingeladen. Es war ein wirklich netter Abend, und ich fühlte mich erneut sehr geborgen bei diesen Menschen. Eine Dame, die ich vom Sehen her kannte wie viele andere dort auch, fiel mir dadurch auf, dass sie mich wiederholt fragte: »Geht es dir gut, Juliane? Ich meine: wirklich gut?«
»Aber ja«, sagte ich, nach einer Weile dann doch ein bisschen irritiert, »ja, mir geht es gut!« Wieso, fragte ich mich, insistierte diese Frau derart auf dieser Frage?
Als es Zeit war aufzubrechen, fuhr sie mich in mein Hotel. Beim Abschied drückte sie mir einen Brief in die Hand.
»Bitte lies das erst nachher, wenn du auf deinem Zimmer bist«, sagte sie. »Und fühle dich nicht verpflichtet zu antworten.«
Natürlich war ich überrascht. Ich konnte mir nicht denken, was mir diese Frau zu schreiben hatte. Aber so, wie ich es ihr versprochen hatte, las ich den Brief noch am selben Abend.
Sie war die Mutter eines der Jungen, die an jenem 24 . Dezember 1971 direkt vor uns in der Reihe beim Einchecken für die LANSA-Maschine gestanden hatten, mit denen ich gescherzt und gelacht hatte. Und der, wie alle anderen auch, ums Leben kam. Sie schrieb, dass sie lange mit ihrem Gott gehadert habe, warum ich überleben durfte und ihr Sohn nicht. Diese Frage hatte sie, die ja ihr Leben wie alle anderen von der Missionsgemeinschaft in Yarinacocha der Verbreitung des Christentums gewidmet hatte, in eine tiefe Krise gestürzt. Bis sie schließlich ihren Frieden mit diesem Schicksal gemacht hatte.
In jener Nacht konnte ich lange nicht schlafen. Meine Geschichte hatte mich nach all den Jahren in Kiel wieder eingeholt. Warum musste er sterben und ich nicht? Warum musste meine Mutter sterben, und ich durfte leben? Am Naturhistorischen Museum hatte eine frühere Kollegin meiner Mutter, die eng mit ihr befreundet gewesen war, erst neulich mit Tränen in den Augen zu mir gesagt: »Damals, als wir die Nachricht vom Absturz hörten, da sagten wir alle: ›Wenn das eine überlebt, dann ist es die Doctora. Denn die weiß genau, wie man sich im Urwald zu verhalten hat.‹ Tja. Und dann war es die Tochter.« Ich weiß, es war wirklich nicht böse gemeint, aber ihre Tränen und dieses so resigniert klingende »tja«, das alles weckte in mir jenes Gefühl, das ich auch damals gegenüber meinem Vater gehabt hatte. Nämlich dass da irgendeine Verwechslung stattgefunden hatte. Das Gefühl, dass die Falsche umgekommen war. Eigentlich hätte meine Mutter die Katastrophe überleben müssen. Oder jener Junge. Aber nicht ausgerechnet ich.
Damals war ich 2 3 Jahre alt. Das Unglück lag sechs Jahre zurück. Ich war überglücklich, zurückgekehrt zu sein. Doch zum ersten Mal dachte ich darüber nach, ob mein Vater nicht vielleicht doch recht gehabt hatte, als er mich nach Deutschland schickte. Dort hatte ich einen gewissen Abstand zu jener Katastrophe bekommen. Hier erinnerte man mich auf Schritt und Tritt aufs Neue daran. Dennoch würde ich immer wieder zurückkommen, mein Leben lang. Tief in meinem Herzen wusste ich das damals schon.
Wieder zurück in Kiel machte ich mich an die Auswertung meiner Untersuchungen. Meine Diplomarbeit bereitete mir großen Spaß, und ich beendete erfolgreich mein Studium. Es stand außer Frage, dass ich auch promovieren wollt e – eine weitere gute Gelegenheit, Zeit in Panguana zu verbringen. Ich wusste zwar noch nicht, worüber ich dieses Mal arbeiten wollte, aber ein besseres Forschungsgebiet als Panguana gab es für mich nicht. Trotz allem, was damit auch an traurigen Erinnerungen verbunden war, zog es mich einfach immer wieder dorthin.
Ich war übrigens nicht die Einzige, die die Forschungsstation meiner Eltern am Ufer des Yuyapichis in diesen Jahren bereiste. Mein Vater schickte immer wieder Diplomanden und Doktoranden in unsere Urwaldstation mit Themen, die sie dort bearbeiten konnten. Wie in früheren Zeiten reisten auch andere Forscher mit dem Einverständnis meines Vaters dorthin, um begonnene Studien zu vervollständigen oder neue anzufangen. Moro war derjenige, der sich vor Ort um die Besucher kümmerte, wenn das notwendig wurde. So dirigierte mein Vater aus der Ferne weiterhin die Geschicke dieses Fleckchens Erde, während er in Hamburg Fuß fasste und, zu aller Erstaunen, von dort nicht mehr wegging.
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