Als könnt' ich fliegen
entwickelt für den Fall, dass Björn die Klappe hält, wovon eigentlich auszugehen ist. Er wird nichts verraten, was Tobias geheim halten will, das ist mal sicher. Ich werde Lisa fragen, ob sie mir hilft. Ich bin gespannt, ob sie den Mut hat.
3.30 Uhr
Und noch was – ich glaube, dass ich heute Nacht überhaupt nicht mehr schlafe, wenn ich es nicht auch noch aufschreibe: Ich tu das alles, weil es dabei um Tobias geht. Um Tobias in meinem Leben. Ich will ihn nicht verlieren. Vielleicht verliert er mich sowieso irgendwann, aber das ist eine andere Sache, weil ich es dann nicht ändern kann. Jetzt glaube ich, dass ich um ihn kämpfen muss. Und das werde ich tun. Aber dafür muss ich die Wahrheit herausfinden.
Zwar fragte mein Vater mich, aber ich war sicher, dass nur Marlies dahinterstecken konnte. Ein Kniffelabend ! Vergleichbares hatte es bei uns nicht mehr gegeben, seit ich die Grundschule verlassen hatte. Dazu noch mit der ganzen Familie , wie er es nannte. Es war klar, wer damit gemeint war. Ich sagte nur unter der Bedingung zu, dass ich auch Milena einladen konnte. Mein Vater hatte nichts dagegen.
»Also gut«, sagte ich. »Heute Abend.«
Dann machte ich mich auf den Weg zur Schule. Zwar hatte der Arzt im Krankenhaus mir noch ein, zwei Tage Sofaruhe verordnet, aber allein, dass ich in der Schule Milena sehen würde, war für mich Grund genug, seinen Rat in den Wind zu schlagen. Und solange ich nicht in den Spiegel schaute, fühlte ich mich auch gar nicht so schlecht.
An diesem Morgen wehte ein starker Wind, und der Himmel war grau. Die Wärme des Sommers aber war noch immer nicht ganz verschwunden. Milena sah müde aus und war merkwürdig distanziert. Länger als sonst drückte sie sich mir ihrer Freundin Lisa herum, die mich misstrauisch beäugte. Sie kam mir vor wie ein Schutzwall, den Milena um sich herum errichtet hatte. Ich fragte sie, was los sei.
»Ich hab das Gefühl«, sagte sie offen, »dass du nicht ehrlich zu mir bist.«
»Inwiefern?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, was sie meinte.
»Ich glaube, dass du den Grund kennst, weshalb sie dich verprügelt haben.«
»Was leider nicht stimmt«, sagte ich die halbe Wahrheit und bog es dann so hin, dass es zur ganzen Wahrheit wurde: »Ich verstehe die Gründe nicht, glaub mir.«
Milena war eine sehr aufmerksame Zuhörerin: »Du verstehst sie nicht«, konterte sie. »Aber du kennst sie.« Im Prinzip saß ich damit in der Falle. Um Zeit zu gewinnen, schüttelte ich den Kopf.
»Lass ihn«, schaltete sich Lisa ein. »Du siehst doch, dass er lügt.«
Ich war froh, dass Milena sie nicht weiter beachtete. Nicht ganz so glücklich war ich damit, dass sie noch immer auf meine Antwort wartete. Eine heftige Windböe fuhr über den Schulhof. Aber auch durch die ließ sich Milena nicht aus dem Konzept bringen. Sie wartete. Sie schaute mich an, als wolle sie die Zeichen in meinem Gesicht lesen. Ich musste irgendwas sagen. Jetzt sofort.
»Ich erzähl es dir«, flüsterte ich. »Später. Ich verspreche es dir.«
»Warum nicht jetzt?«
»Es geht nicht«, behauptete ich. »Ich kann nicht.«
Die Schulglocke klingelte. Die anderen gingen nach und nach hinein. Schließlich auch Lisa. Milena und ich blieben stehen. Ich merkte, dass sie etwas sagen wollte, aber die Worte kamen nicht aus ihrem Mund. Ich hätte sie gern in den Arm genommen, aber ich hatte das Gefühl, dass ich das lieber nicht tun sollte. Sie steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihr immer wieder ins Gesicht wehte.
»Vertraust du mir nicht?«, fragte sie schließlich. Ihre Stimme klang völlig fremd.
»Doch, natürlich«, sagte ich. »Aber du musst mir auch vertrauen.«
»Kann ich das denn?«
Ich nickte. Wir waren die Einzigen, die noch auf dem Hof waren. Langsam setzten wir uns in Bewegung. Ich legte meinen Arm um ihre Schulter. Sie ließ es zu, was mich ein bisschen erleichterte.
»Eh ich es vergesse«, sagte ich, als wir auf der Treppe waren, »du bist heute Abend eingeladen. Bei uns zu Hause. Es soll so was wie ein Spieleabend stattfinden. Kommst du?«
»Gerne«, sagte sie. Dass sie noch nicht wieder lächelte, versetzte mir einen Stich. Dann ging jeder in seine Klasse.
Bis zum letzten Moment konnte ich mir nicht vorstellen, dass Ilka tatsächlich an den Esszimmertisch zurückkehren würde, um mit uns Würfel zu spielen. Aber sie tat es. Punkt acht Uhr betrat sie den Raum. Ich staunte gleich ein zweites Mal: Sie trug eine schlichte Jeans und ein ebensolches T-Shirt. Ich
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