Als könnt' ich fliegen
Missverständnis.« Trotzdem hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen. Sven spürte das und gewann wieder die Oberhand.
»Missverständnis«, wiederholte er bitter. »Wie viele solcher Missverständnisse wird es in Zukunft geben? Täglich eins?«
Der Regen klatschte mit solcher Wucht aufs Straßenpflaster, dass die Tropfen gleich wieder einen halben Meter hochsprangen. Das Blätterdach über uns hielt dicht, wir standen trocken.
»Erstens weiß ich nicht, was dich das angeht«, sagte ich. »Du bist ihr Bruder und nicht ihr Vater.« Mir schien, dass ich eigentlich wütend hätte sein müssen, aber ich war es nicht wirklich. »Und zweitens wird es keine täglichen Missverständnisse geben. Warum sollte es?«
Jetzt wurde Sven wütend. »Du willst es einfach nicht kapieren!«, schrie er. »Sie ist behindert! Das macht sie nicht gerade zu einem einfachen Menschen.«
»Was willst du mir damit sagen? Bist du vielleicht ein einfacher Mensch? Oder ich? Was soll das überhaupt sein: ein einfacher Mensch?«
Er hörte mir nicht zu. »Früher oder später«, rief er, »hast du die Nase voll von ihr! Dann lässt du sie sitzen!« Mir schien, dass er mit den Tränen kämpfte. Tränen der Wut. Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Kein Mensch weiß, wie lange eine Freundschaft hält. Vielleicht macht sie auch mit mir Schluss. Falls es dich beruhigt: Bei mir ist nichts in der Richtung geplant. Ich bin total … verliebt in sie.«
»Verliebt!«, äffte er mich nach. »Wie oft warst du das denn bis jetzt? Nur so ungefähr?«
Es war mir zu blöd, auf diese Provokation zu antworten. Der Regen ließ nach. Irgendwo hinten schien schon wieder die Sonne. Von der Straße stieg Dampf auf. Sven sammelte Kräfte zur Schlussoffensive: »Du lässt sie in Ruhe, klar? Noch ist es nicht zu spät. Dann kann sie jemanden finden, der zu ihr passt.«
»Welche Kriterien muss man denn da erfüllen?«, fragte ich. »Reicht es, mit dem anderen Bein zu humpeln, oder muss es auch das rechte sein?«
Sven schlug ungezielt mit der Faust in meine Richtung. Aber ich war darauf vorbereitet, fing den Schlag ab und hielt seine Hand fest. Wir schauten uns noch einmal in die Augen.
»Ich finde auch«, sagte ich, »dass es noch nicht zu spät ist. Wenn du mal über den Schwachsinn nachdenkst, den du da redest.«
Wütend riss er sich von mir los und wandte sich ab. »Na warte«, rief er, »das war noch nicht das letzte Wort!« Dann verschwand er, ohne sich umzudrehen.
»Ich hoffe aber doch«, sagte ich leise zu mir selbst. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, dass meine Hoffnung sich erfüllen würde. Zumindest in diesem Punkt.
15
3. September
Tobias war heute nicht in der Schule. Auch Björn wusste nicht, was mit ihm los war.
»Vielleicht hat ihn die Grippe erwischt«, meinte er lapidar. Aber ich sah ihm an, dass er das selbst nicht wirklich glaubte.
Nach der vierten Stunde hab ich es nicht mehr ausgehalten und bin zu Tobias nach Hause. Eine große schlanke Frau öffnete die Tür. Sie war sehr freundlich, schien aber etwas verwirrt. Mir war sofort klar, dass sie Marlies sein musste, die Mutter von Ilka. Als ich nach Tobias fragte, passierte etwas, das ich zunächst nicht verstand: Sie begann zu weinen. Ich sagte ihr, dass ich Tobias’ Freundin sei, und sie bat mich herein. Wir setzten uns an den Esszimmertisch. Sie entschuldigte sich für ihre Tränen und bot mir etwas zu trinken an. Ich lehnte ab. Ich hatte das Gefühl, gleich zu platzen, wenn sie nicht redete. Ich musste wissen, was los war.
»Tobias ist im Krankenhaus«, sagte sie schließlich.
»Was?« Ich war sicher, nicht richtig gehört zu haben. Als sie mein Erschrecken sah, griff sie über den Tisch nach meiner Hand.
»Es ist nicht so schlimm, wie es zunächst aussah.« Das sollte wohl beruhigend klingen, aber es verwirrte mich nur noch mehr.
»Was ist denn mit ihm los?«, fragte ich. »Er war doch gestern noch … Und wieso sah es schlimm aus? Nun reden Sie doch!«
Ich entzog ihr meine Hand. Es war nicht der Augenblick für Tröstungen.
»Er ist … Man hat ihn verprügelt.«
»Was heißt das denn? Ist er …«
Marlies nickte. »Gestern Abend. Auf dem Nachhauseweg. Nicht weit von hier.«
Sofort kam mir Sven in den Sinn. Aber das konnte doch nicht sein. Ich versuchte, den Verdacht zu verdrängen. Es gelang mir nicht.
»In welchem Krankenhaus ist er?« Ich befand mich schon auf dem Weg zur Tür.
»Im städtischen. Sein Vater ist bei ihm. Vielleicht kommt er auch gleich wieder
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