Als Mrs Simpson den König stahl
Tor von Cuckmere Park. Gerade stellte Mr Hooch den Talbot in der Garage ab und winkte ihm zu.
»Guten Tag, Sir. Schön, Sie zu sehen. Sind Sie gekommen, Ihrer Ladyschaft einen Überraschungsbesuch abzustatten?«
Das Personal von Cuckmere war nach wie vor von Julian eingenommen, zum einen wegen seiner Fürsorge für Lady Joan, zum anderen wegen seiner noch immer unausgesprochenen, aber offensichtlichen Zuneigung zu der jungen May.
»Ja, stimmt, Mr Hooch. Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, ich bin gekommen, um ein bisschen Ruhe und Besinnung zu finden«, antwortete Julian, den plötzlich das Bedürfnis überkam, dem Älteren die Wahrheit zu gestehen. »Ist jemand da?«, fragte er.
Mr Hooch ahnte nicht, was sich hinter der Frage verbarg. »Sir Philip ist in seinem Arbeitszimmer, und Miss May habe ich eben vom Bahnhof abgeholt. Sie müssen über die hintere Auffahrt gekommen sein, sonst hätten wir Sie auf der Straße überholt. Ich nehme an, Sie finden sie in der Küche. Ich werde Sir Philip sagen, dass Sie hier sind.«
Die Küche war leer, aber Julian wusste, wo May wohnte. Mrs Cages Haustür war nicht verschlossen. May kauerte neben einem Schrank in der Diele und schnüffelte an einem Farbpinsel. Sie fuhr zusammen, als sie Julian sah.
»Du? Oh, entschuldige! Hast du mich erschreckt!« Flüsternd fügte sie hinzu: »Aber was für ein schöner Schreck.« Sie legte den Pinsel auf den Farbtopf, schloss den Schrank und ging zu ihm. Mit dem Zeigefinger berührte sie seine Lippen.
»Könnten wir nicht in den Schrank klettern?«, flüsterte er zurück und grinste sie mit einem Gesichtsausdruck an, der halb Vergnügen und halb Überraschung spiegelte. Er ergriff ihren Finger und küsste ihn. »Kannst du mir verraten, warum du dich plötzlich so für Farbe interessierst?«
»Oak Street, du Dummkopf«, sagte sie leise.
»Ach ja, natürlich«, erwiderte er. May war nicht die Einzige gewesen, die am Abend von Joshuas Geburt die Lettern auf der Tür der Greenfelds in Bethnal Green gesehen hatte. Nat und Simon hatten sich oben bei dem neuen Baby aufgehalten, als May Julian ein Zeichen gab, mit ihr nach draußen zu gehen. Mit Hilfe eines feuchten Tuchs und etwas Terpentin war es den beiden gelungen, das Corpus Delicti zu beseitigen, bevor irgendeiner der Bewohner des Hauses Nummer 52 es sah.
Ohne ein weiteres Wort bedeutete ihm May, ihr nach oben in ihr Zimmer zu folgen. Als sie die Treppe hinaufstiegen, nahm sie seine Hand. Auf Mays Bett lag, mit dem Gesicht nach unten, eine kleine, stumme Gestalt. Florence zitterte am ganzen Leib. Auf Mays sanfte Berührung reagierte sie nicht. Neben ihr auf dem Fußboden lag ein Bilderrahmen. May hob ihn auf und zeigte ihn Julian. Von der Aufnahme blickte ihnen ein ernster Mann im Alter von etwa zwanzig Jahren entgegen, so alt wie Julian. Das eingefettete Haar hatte er aus der Stirn gestrichen, und er trug eine Uniform, die Julian sofort erkannte. Die Kniestrümpfe, die Lederhose und das beige-braune Hemd mit Schulterklappen wiesen ihn eindeutig als Mitglied der Hitlerjugend aus.
»Florence. Rede mit mir«, sagte May und setzte sich zu dem Kind aufs Bett. Die rot-goldenen Zöpfe hingen Florence über den Rücken ihrer karierten Bluse. Als May jedoch versuchte, Florence umzudrehen, sprang diese, ohne sie anzublicken, auf und rannte aus dem Zimmer. Julian und May sahen einander an. Er ging zum Bett und legte beide Arme um Mays Taille. Er küsste sie so fest, dass sie sich an ihm festklammern musste, um ein plötzliches Schwindelgefühl zu überwinden.
»Das war wohl eher ein Abschieds- als ein Begrüßungskuss«, sagte sie schließlich. »Er hat sich angefühlt wie ein letzter Kuss, den ich nie vergessen soll. Willst du ihn nicht wiederholen? Nur damit ich sicher sein kann, dass es nicht der letzte war?«
»Am liebsten würde ich dich den ganzen Tag lang küssen, Liebling. Tausend Mal am Tag«, sagte Julian. Es klang etwas wehmütig. »Aber Sir Philip weiß, dass ich hier bin, und ich sollte besser zu ihm gehen und hallo sagen.«
Julian fand ihn im Salon. Der Ältere freute sich, Julian zu sehen, und war leicht überrascht über die Tatsache, dass er allein war. Er wusste von der gegenseitigen Anziehung zwischen ihm und May, und wenn Joan da gewesen wäre, hätten sie die guten und die weniger guten Folgen eines möglichen Liebesverhältnisses zwischen einer Angestellten und einem Freund ihres Sohnes erörtern können. Von außen betrachtet, war die Situation höchst unorthodox.
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