Als Mrs Simpson den König stahl
Palace im Süden Londons erwartet. May nickte. Sie versuchte, nicht an Julians Brief zu denken, sondern Miss Nettlefolds Begeisterung zu teilen. Zweifellos war diese in überschwänglicher Laune.
»Die Dinge laufen gut für mich, May, wie ich zu meiner Freude berichten kann. Einige Leute ziehen es vor, mich aus ihrem Leben zu drängen, aber ich habe festgestellt: Wenn eine Tür sich schließt, geht eine andere auf, besonders wenn man am wenigsten damit rechnet!« Und schon legte sie los. Sie rühmte die Briten und besonders die Schotten, die, wie sie jüngst herausgefunden habe, die treuesten Freunde seien. »Treue, May, das ist die Eigenschaft, die ich am höchsten schätze. Deswegen mag ich Sie auch so, May.« Mit einem großmütigen Lächeln erkundigte sie sich schließlich danach, wie es May ergangen sei. »Wie geht es Ihrem netten Bruder? Sam, der wird's noch zu was bringen, das weiß ich. Glauben Sie mir. Ach, und übrigens, Hooch hat mir gesagt, Julian Richardson sei auf und davon nach Spanien.«
»Ja«, erwiderte May, »er ist heute Morgen ziemlich überhastet aufgebrochen.«
»Nun ja. Verzeihen Sie mir, May, wenn ich sage: Gott sei Dank sind wir den los. Denken Sie nur nicht, ich hätte nicht bemerkt, dass Sie ein gewisses, nun, sagen wir mal, ›Interesse‹ an ihm entwickelt haben, obwohl ich mir selbst beim besten Willen nicht
vorstellen kann, was irgendjemand an ihm finden könnte mit seiner Brille und seinem Albinohaar. Glauben Sie mir, es gibt mehr im Leben als Schwimmen. Der interessiert sich für alles und nichts. Konnte sich nie für irgendwas entscheiden, in der Politik nicht und nicht bei seinen Freundinnen. Die arme Lottie. Kein Wunder, dass sie sich bei Rupert besser aufgehoben fühlt. Immerhin, vielleicht werden ja die spanischen Sehenswürdigkeiten dem jungen Mr Richardson Vernunft beibringen.« Das Wort »jung« sprach sie verächtlich aus.
May wandte sich wieder ihrer Schreibmaschine zu. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, aber es gelang ihr, etwas daherzumurmeln, das wie Zustimmung klang, bevor Miss Nettlefold das Arbeitszimmer verließ, um nachzuschauen, ob im Salon schon Tee serviert war.
22
Kurz nachdem sie London verlassen hatten, hörte Evangeline, wie May den Doppelschalter am Walnussarmaturenbrett umlegte und erst die Begrenzungslichter, dann die Frontscheinwerfer einschaltete. Sie war überrascht, dass die Dunkelheit schon zur Teestunde hereinbrach. Sie streckte sich auf dem Rücksitz aus und starrte zum Wagendach hinauf. Unter dem Rand der karierten Decke, mit der sie sich zugedeckt hatte, ragten ihre eleganten Schnürstiefel hervor. Evangeline konnte sich nicht dazu durchringen, aus dem Fenster zu schauen. In der Dämmerung war ohnehin nicht mehr viel zu erkennen. Auch Loafer befand sich in einem komatösen Zustand. Zusammengesackt lag er auf dem Bauch seines Ersatzfrauchens und hob und senkte sich mit jedem ihrer Atemzüge. Evangeline war sich bewusst, was für einen trägen Eindruck sie auf May machen musste, besonders im Vergleich zu der optimistischen Stimmung, die sie sich noch am Morgen des Vortags verbreitet hatte. Aber es kümmerte sie nicht mehr. Die Fahrt über wechselte sie mit May kaum ein Wort.
Die Demütigung, die sie gestern im geheimen Rundfunkstudio des Crystal Palace erfahren hatte, war schlimmer als alles, was sie jemals mit ihrer Mutter hatte durchmachen müssen. Im Nachhinein ärgerte sie sich grün und blau darüber, dass sie so dumm gewesen war, zu glauben, ein allem Anschein nach so einfacher Plan würde funktionieren. Außerdem hätte sie sich, was Wallis betraf, nicht von Verachtung und Enttäuschung leiten lassen dürfen. Natürlich hatte sie sich eingeredet, der eigentliche Beweggrund für ihr Vorgehen sei das Verlangen, die Wahrheit zu sagen, so wie Sir John ihr es beim Mittagessen geraten hatte. In Wirklichkeit jedoch war Evangelines Plan eine Ausgeburt der Eifersucht und der Kränkung. Sie wollte Revanche dafür, dass Wallis sie zurückgewiesen hatte.
Alles hatte so gut angefangen. Außer May hatte sie niemandem von der Ehre erzählt, dass sie von Sir John für seine neue, experimentelle Sendung ausgewählt worden war. Ihr Auftritt sollte eine Überraschung werden. In den vergangenen Wochen war das Verhältnis zwischen ihr und May abgekühlt, sie hatte Julians offensichtliche Zuneigung zu der jungen Chauffeurin nicht einfach übergehen können. Nun jedoch, da er aus dem Weg geräumt war, wollte Evangeline etwelche Unstimmigkeiten mit May
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