Als Mrs Simpson den König stahl
würden. Aber May fand an diesem Ort
eine Schönheit und einen Frieden vor, die selbst die Erinnerung an die sandigen, wellenumspülten Weiten übertrafen, die sie aus ihrer Kindheit kannte.
Ein paar Tage später arbeitete May wieder im Studierzimmer. Was ihr Einverständnis anbelangte, Julian in den Norden zu fahren, so hatte sie sich eines Besseren besonnen. Obwohl sie seinem Vorschlag ursprünglich zugestimmt hatte, hielt sie die Idee inzwischen für ziemlich abwegig. Zum Teil hing dies mit der berunruhigenden Aussicht zusammen, mit jemandem, der so gescheit und, nun ja, so anders war, Zeit allein zu verbringen. Aber sie hegte noch einen weiteren Vorbehalt. Sie war eine einfache Angestellte, und ihre bisherigen Erfahrungen mit den englischen Gepflogenheiten hatten sie bereits gelehrt, dass verschiedene Gesellschaftsschichten, ebenso wie verschiedene Nationalitäten, nicht miteinander verkehrten. Wenn sie ihre Stelle behalten wollte, musste sie sich auch ihrer Stellung bewusst sein.
May zog die Schreibmaschine näher zu sich heran. Sie musste einen dringenden Brief an Sir Oswald zu Ende bringen, in dem eine zweite Übernachtung vorgeschlagen wurde. Das Vertrauen, das ihr Arbeitgeber ihr schenkte, wuchs stetig, und Tag für Tag tippte sie vertrauliche Papiere, oft ohne ein Wort der Erklärung.
»Zu meiner Freude habe ich während unserer angenehmen Gespräche hier in Cuckmere entdeckt, dass man politische Meinungsverschiedenheiten durchaus zurückstellen kann, wenn es um Belange geht, die die verfassungsrechtlichen Wurzeln unserer Nation betreffen«, hatte Sir Philip diktiert.
Danach musste sie einen dringenden Anruf tätigen. Dem Chefredakteur des Daily Telegraph sollte sie mehrere Termine zur Auswahl stellen, um mit Sir Philip das, wie er es nannte, »amerikanische Problem« zu erörtern. May hob den unhandlichen Hörer und wollte eben die Vermittlung bitten, sie durchzustellen, als der Apparat klingelte.
»Ist da May?«, fragte eine vertraute Stimme. »Oh, May. Du bist's wirklich. Kann ich kommen und dich sprechen? So schnell wie möglich? Ich hab den Nachmittag freibekommen.«
Ihr Bruder Sam sprach mit ruhiger, aber eindringlicher Stimme. Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam May, als sie ansetzte, ihn nach dem Grund seines Besuches zu fragen, und merkte, dass sie diesen gar nicht wissen wollte. Noch nicht.
»Ich nehme den Zug von Portsmouth und kann in zwei Stunden bei dir sein.« Bevor sie den Hörer auf die Gabel legte, hörte sie ein halb geflüstertes »Ich hab dich lieb«.
May saß an ihrem kleinen Schreibtisch in Sir Philips Arbeitszimmer und wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Sie betrachtete ihre Hände. Wie gewöhnlich waren ihre Finger von einem Tintenfilm bedeckt, der sich vom Kohlepapier abrieb. Um sie richtig sauber zu bekommen, musste sie eine Scheuerbürste benutzen. Heute störte sie der Anblick der schmierigen Tintenflecken jedoch nicht. Sie fühlten sich an wie ein Bestandteil eines normalen Arbeitstages. Trotzdem blieb sie sitzen, außerstande, ihre Arbeit fortzusetzen. Der Anruf bei dem Chefredakteur und der Brief an Mosley mussten warten. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag der Stoß Korrespondenz, den sie für Sir Philip beantworten sollte, in der Mitte durchstochen von dem gefährlich aussehenden Zettelspießer. Die Briefe waren ein alltägliches Sammelsurium, typisch für die Post in Cuckmere während der parlamentarischen Sitzungspause zu Ostern: zwei frühe Einladungen zu Sommerfesten in Nachbardörfern, die wöchentliche Zigarrenrechnung. Aber es waren auch zwei Umschläge mit dem Vermerk »Streng vertraulich« dabei, die sie eigentlich Sir Philip auf den Schreibtisch legen musste, aber sie konnte sich nicht aufraffen, die paar Schritte zu tun.
Es waren schon über zwei Wochen vergangen, seit May zuletzt einen Brief von ihrer Mutter erhalten hatte. Darin hatte diese ihrer Erleichterung darüber Ausdruck verliehen, dass May und Sam sich in ihr neues Leben eingewöhnt hatten. »Ich habe
immer gewusst, dass sich Nat mit derselben liebevollen Fürsorge um euch kümmern würde, die meine Schwester euch hätte zuteilwerden lassen«, hatte Edith geschrieben.
May musste daran denken, wie sie ihre Mutter zum letzten Mal aus nächster Nähe gesehen hatte. Sie war überrascht gewesen, als sie um ihren Mund und auf ihrem Kinn ein Geflecht winziger Falten erblickt hatte, die sich, wenn Edith lächelte oder sich konzentrierte, zu einem Muster kreuz und quer verlaufender
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