Als Mrs Simpson den König stahl
bitte sagen Sie nicht Mister Richardson. Ich bin Julian. Einfach nur Julian.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, bückte er sich, las die Zigaretten auf, stopfte sie in seine Tasche und ging aus dem Zimmer. May konnte sein unmelodisches Summen hören, bis er die Gartentür am Ende des Korridors erreichte.
Sosehr sie sich bemühte – nach dem Vorschlag, den sie Julian eben spontan gemacht hatte, sah sie sich außerstande, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Ihre Konzentration war dahin. Durchs Fenster betrachtete sie
das schöne Frühlingswetter. Sie stand von ihrem Schreibtisch auf und ging nach draußen, um Florence zu suchen. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, Zeit miteinander zu verbringen, wann immer May gerade nicht arbeiten musste und Florence nicht in der Schule war. Bei ihrem ersten Ausflug wollte Florence May unbedingt die legendäre Mrs Jenkins vorstellen, obwohl Mrs Cage vor der Unberechenbarkeit einer solchen Begegnung gewarnt hatte. Florence hatte eine widerstrebende May durch die Tür des Postamts und zum Schalter gezerrt.
»Das ist meine Freundin May. Finden Sie sie auch so schön, Mrs Jenkins? Meine Mutter sagt, alle Männer sind verrückt nach ihr.«
»Es überrascht mich nicht, das zu hören«, hatte Mrs Jenkins entgegnet, eine harmlos wirkende Frau mittleren Alters mit einem Haarnetz. Von ihrem Platz hinter dem Schalter unterzog sie May einer gründlichen Prüfung.
»Sie ist hinreißend, Florence. Allerdings so dunkel wie Tee, der zu lange gezogen hat, Liebling. Und dann diese grässlich kurz geschorenen Haare. Sie ist doch nicht etwa eine von diesen fürchterlichen Lesbierinnen?«
Zu ihrem zehnten Geburtstag hatte Florence ein funkelndes Fahrrad bekommen, ein Geschenk von Lady Joan. Auch für May gab es ein Rad, zwar ein gebrauchtes, aber durchaus noch betriebsfähig. Nach zwanzigminütigem Gewackel – May war hinter Florence hergerannt und hatte mit der Hand am Sattel geholfen, das Fahrgerät im Gleichgewicht zu halten – und nachdem Florence aus Frustration etliche Male heftig in die Speichen getreten hatte, war die natürliche Balance gefunden.
Als May jetzt auf dem Weg war, um Florence zu suchen, und das Sonnenlicht in großen Lachen auf den steinernen Fußboden der großen Eingangshalle fiel, wusste sie: Wenn es je einen perfekten Tag zum Radfahren gegeben hatte, dann war es dieser.
Die Felder um Cuckmere Park wurden an vielen Stellen von
den Mäandern eines kleinen Flusses durchschnitten, der bei Cuckmere Haven ins offene Meer mündete. Vor ein paar Tagen schon waren May und Florence auf die kleine Anhöhe oberhalb des Hauses hinaufgeradelt, um den sich dahinschlängelnden Fluss von oben zu betrachten. Dort entdeckten sie eine riesige Kreidezeichnung, ein weißes Pferd, das in einen Fels hineingeritzt war. Da Florences neu erworbene Radfahrkünste in die Jahreszeit fielen, als die hügelige Landschaft sich in ein riesiges Kinderzimmer zu verwandeln begann, beschlossen May und Florence, an diesem sonnigen Frühlingstag in die Downs zu fahren, um die neugeborenen Lämmer zu sehen. Auf den Weiden tummelten sich die Schafherden mit ihren Kleinen. Die Wolle, die die acht Tage alten Körper bedeckte, glich Häubchen aus geschlagenem Eiweiß. Die schläfrigen Muttertiere mit ihren verfilzten grauen Fellen, die farblich den kreidehaltigen Feuersteinen glichen, mit denen die Landschaft um sie herum übersät war, kauten rhythmisch vor sich hin, während ihre Lämmer auf allen vieren in die Luft sprangen. Florence ahmte die jungen Tiere nach und hüpfte auf und ab. Wenn die Lämmer es dann müde waren, von den erdbraunen Maulwurfshügeln in die Höhe zu springen, stärkten sie sich an der stets verfügbaren Milchquelle und wackelten beim Trinken mit den Schwänzchen. Hin und wieder legten sie sich, erschöpft von der eigenen Lebenslust, auf die warme Erde, wobei sie die Vorderbeine noch etwas ungelenk, aber achtsam unter ihren Körper schoben. Die Mütter standen dabei, schirmten ihre Jungen gegen den peitschenden Wind und stupsten sie gelegentlich mit den Mäulern an. Ein Stück weiter entfernt, in den frisch ergrünten Hecken am Rande der Felder, hielten sich Würfe junger Kaninchen versteckt. Jedwede Gefühlsduselei, die beim Anblick all dieser neuen Lebenskraft aufkeimen wollte, musste man hier oben unterdrücken. May und Florence waren sich bewusst, dass diese unschuldigen Tiere irgendwann in den großen kupfernen Kochtöpfen von Cuckmere enden
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