Als Oma bist du ja ganz nett: Wie meine Mutter ein Enkelkind bekam (German Edition)
verschwitzte Frau zu sehen, die ihr müde blinzelndes Neugeborenes anlächelte. Ich hingegen wollte einfach mal fünf Minuten alleine sein. Aber dass ich derlei Verheißungen keinen Glauben hätte schenken sollen, wusste ich spätestens, seit während der zurückliegenden Schwangerschaftsmonate nicht mal die versprochene »seidige Haut« oder das »volle glänzende Haar« sowie die »aktive Libido« wahr geworden waren.
Dass ich nach der Geburt eine ganze Woche im Krankenhaus blieb, war keineswegs meiner schwachen Konstitution geschuldet; Frauen blieben damals standardmäßig so lange in der Klinik. Ob der Tagesablauf mit frühem Wecken, Stillen nach der Stechuhr, ständigem Hin und Her im Zimmer und auf den Gängen und der harten Türpolitik gegenüber Besuchern sinnvoll war, sei dahingestellt. Hier war Krankenhaus: extraterrestrisches Gebiet, auf dem Ärzte und Schwestern das Sagen hatten. Ihren Anweisungen wurde diskussionslos Folge geleistet.
Die Anweisungen lauteten, grob gesagt: Wir sagen, was du tust und lässt. Noch besser: Du lässt einfach alles, wonach dir ist. Und wartest, bis wir dir sagen, was du als Nächstes machst. Ganz ehrlich, ich war nicht undankbar. Mein Körper wollte schlaaaafen. Mein Bauch wollte essen. Mein Intellekt war schon seit Monaten auf Demenz gepolt. So ein bisschen Wochenbettdiktatur war in meinem Fall keine schlechte Lösung. Und die sah dann folgendermaßen aus:
Um halb sechs enterte eine freundliche Krankenschwester unser Dreibettzimmer. Sie hatte kalte Fieberthermometer dabei. Wir schlurften zum Klo, putzten uns die Zähne, sagten unsere Körpertemperatur an und bekamen zum Dank jede eine Kanne Tee auf den Nachttisch gestellt. Dann bimmelte es im Flur. Wir schlüpften eilig in unsere Bademäntel und marschierten zur Babyausgabe. Was für ein Wort!
Und tatsächlich, am Ende des Ganges öffnete sich eine Milchglastür, eine Schwester schob einen meterlangen, in Kästen unterteilten Holzwagen in den Flur. In den Kästen lagen, fest eingewickelt wie kleine Brote, unsere Kinder. Ich suchte meines heraus – der Name stand ja auf einem Heftpflaster –, nahm es in den Arm und trug die süße Beute in mein Zimmer. Dort machte ich mich ans Stillhandwerk.
Acht Stunden hatte ich mein Baby nicht gesehen. Acht Stunden – zwischen zweiundzwanzig Uhr abends und sechs Uhr morgens –, in denen die Kinder im Kinderzimmer gelegen hatten, wo sie bei Hungerattacken mit Ersatzmilch und Traubenzuckerlösung versorgt worden waren. Zum Streicheln wird angesichts ihrer schieren Menge wohl keine Hand frei gewesen sein. Ich weiß es nicht genau, es war verboten, das Kinderzimmer zu betreten. Die Mütter sollten sich ausruhen. Sie sollten essen, schlafen und tagsüber alle vier Stunden ihr Kind vom Brotwagen nehmen und es stillen. Der Alltag zu Hause würde noch hektisch genug werden. Und weiß Gott, das stimmte.
Ich weiß, das klingt heute wie eine üble Phantasie. Neugeborene, ihren Müttern entrissen und quasi nur auf Kurzbesuch an der Mutterbrust. Frisch entbundene Frauen, die ihr Kind nur im Vierstundentakt zu sehen bekamen. Väter, denen zu festen Besuchszeiten ein stramm in Molton gewickeltes Bündel in den Arm gedrückt wurde, dessen Gesicht sie gerade mal mit dem kleinen Finger streicheln konnten. Aber so war es. Nicht lustiger, nicht schöner. Das waren die Regeln. Ich kannte keine anderen, und es war okay.
Obwohl: im Rückblick seltsam. Schon bei Kiras Geburt ein paar Jahre später war dieses Mütter-Kinder-Grenzregime komplett aufgehoben. Im Zweifel waren nun die Mütter die Chefinnen im Ring – Krankenschwestern, Hebammen, Ärzte hatten sich ihren naturbelassenen, mitunter esoterisch fundierten Wünschen und Forderungen bedingungslos zu unterwerfen. Diese Selbstbestimmtheit von Gebärenden in einem Moment äußerster Verletzlichkeit ist wohl einer jener Punkte, an denen wir Ostfrauen den Westmüttern ruhig mal ein bisschen dankbar sein können. Es sollte von da an nur noch eine Dekade dauern, bis es unter Gebärenden in Berlin wieder Mode wurde, sich lieber einer praktischen Osthebamme ohne Mätzchen anzuvertrauen. Die wussten, wie der Hase läuft.
Noch aber schrieben wir den Winter 1988. Wenn ich also nicht mit Stillen befasst war, vertrieb ich mir die Zeit mit meinen Zimmergenossinnen. Obwohl wir komplett verschieden waren, verstanden wir uns prächtig. Ich war eher so die unpraktische, aber lustige Studentin. Bettnachbarin Sabine arbeitete in der Berliner Glühlampenfabrik,
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