Als Oma bist du ja ganz nett: Wie meine Mutter ein Enkelkind bekam (German Edition)
Ausnahmezustand leben und sich auch danach einiges ändern würde, behandelten mich alle wie eine Rollstuhlfahrerin, die noch nicht weiß, dass ihre Beine gelähmt sind. Durch die Schwangerschaft entwickelte ich eine leichte bis mittelstarke Identitätskrise, weil ich einfach nur dazugehören wollte – und es allem Anschein nach nicht mehr tat. Bloß weil man wie ein rohes Ei aussieht, bedeutet das nicht, dass man auch so behandelt werden möchte.
Dabei begann alles so schön unangenehm: »Ähm, darf man euch jetzt beglückwünschen?« war schon eine der nettesten Reaktionen auf die Verkündung meiner neuesten Neuigkeit. Viele meiner Freunde hatten nur ein »Ts« oder sogar »Ein Kind? Ach du Kacke« übrig. Ich war ihre erste echte Schwangere, und die meisten wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Später dann übten sie an mir das »Achtung, sie ist schwanger«-Programm, wenn sie mir schneepflugartig den Weg freiräumten. Ich winkte dann immer etwas peinlich berührt und entschuldigend in die verstört schauende Menschenmenge. Ständig erkundigte sich einer nach meinem Befinden, nicht selten auf eine Weise, die die Frage mit einschloss, ob man nicht besser einen Eimer für eventuelle Notfälle bereitstellen sollte.
Als das Kind dann da war, musste ich die meisten meiner zwischenmenschlichen Beziehungen ein bisschen umbauen. Viele sahen mich als mutige Pionierin, während ich lieber die Alte plus Kind geblieben wäre. Ich bemühte mich ständig, auch über etwas anderes als über Sophie zu reden. Nicht, dass ich nicht stundenlang von ihren Gemütszuständen hätte schwärmen können, aber ich wollte es nicht, aus Angst, zu einer nervtötenden Mutterkuh zu werden.
Doch meine Mühen waren ohnehin vergebens, die meisten wollten tatsächlich alles über diese neue Erdenbürgerin erfahren. Von meiner Gefühlswelt hingegen schienen sie gelangweilt bis überfordert zu sein. Ich diente als Informationskanal, nicht als Philosophie-Talkrunde. Plötzlich gab es in meiner näheren Umgebung auch jede Menge Halbfremde, die wissen wollten, wie lange die Geburt gedauert habe, wann mein Muttermund wie weit geöffnet gewesen sei und ob das Stillen gut klappe. Nicht selten erfuhr ich Details über Brustentzündungen von Verkäuferinnen, Busfahrerinnen oder ehemaligen Lehrerinnen. Heerscharen angehender Hebammen, Ärztinnen, Kindergärtner und sonstiger sozial Engagierter sezierten meine Erfahrungen, um sie mit ihrem theoretischen Stoff abzugleichen. Ich war ihr lebendes Objekt.
Meistens war das nicht schlimm, es war ja insgeheim auch mein Lieblingsthema. Aber wenn immer der gleiche Fragenkatalog abgehandelt wird, ist das schon irgendwann verdächtig eintönig. Meinen Freundinnen und Freunden fiel es oft schwer zu verstehen, dass ich nicht mehr fünf Programmpunkte und eine spontane Reise zu ihnen erledigen konnte, sondern mit null bis maximal einer Sache pro Tag komplett ausgefüllt war. Oft rief ich sie an, zwischen Klamottenbergen, Babykotze und Beziehungsstress, um mich auszuheulen, und sie gingen ans Telefon und fragten freudig erregt: »Hast du Lust, heute Abend zwischen eins und vier tanzen zu gehen?«
Mit meiner Abiturfreundin Aljonuschka hatte ich viele solcher Gespräche. Wir beide sind uns sehr ähnlich. Wir sind uns oft unsicher, was die Zukunft bringen wird, und bevor die Welt jeden Moment einfach stehen bleiben könnte, machen wir lieber noch einen drauf. Deshalb sind wir auch ähnlich impulsiv. Das zieht die Menschen an – Spontaneität, Freiheit und Dominanz. Gäbe es Idiotenschach, das im Doppel gespielt wird, wären wir zusammen das Schlusslicht der Weltrangliste. Denn Nachsicht und Voraussicht sind nicht so unsere Stärken. Ist ja auch klar, schließlich kann niemand beweisen, dass es die Vergangenheit oder die Zukunft gibt. Warum dann also darüber philosophieren?
Aber mit Sophies Geburt trat plötzlich eine Entfernung zwischen uns ein, die all unsere Ähnlichkeiten auseinandertrudeln ließ. Als ich Mutter wurde, wurde sie zeitgleich, nach dem Ende einer langen und intensiven Beziehung, zur wilden Berliner Singlelady. Während in mein Leben eine kleine Masse Mensch trat, trat in ihr Leben eine große Menge Männer. Während ich mit Muttergefühlen umherlief, steckte Aljonuschka mitten in pubertären Jugendgefühlen. Wir beide lebten in extremen Situationen. Wenn ich sie bat, mehr Rücksicht auf mich zu nehmen und mich hin und wieder auch mal zu fragen, wie es mir geht, wollte sie, dass alle Menschen
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