Als Oma bist du ja ganz nett: Wie meine Mutter ein Enkelkind bekam (German Edition)
überstehen?« Ich sperrte sie wieder ein. »Maul«, sagte ich. Aber sie hatte mir einen Floh ins Ohr gesetzt. Plötzlich blickte ich mein Kind voller Liebe und Mitleid an. Dieses perfekte, bezaubernde Wesen war so schutzbedürftig. So angewiesen auf meine helfenden Hände. Sie braucht mich. Und ich brauche sie. Wenn ein Abschied naht, spüre ich eines der Grundgesetze der Menschheit mit voller Wucht: »You don’t know what you’ve got till it’s gone.«
Plötzlich konnte ich all meine Gefühle für dieses Geschenk der Liebe nicht nur spüren, sondern auch komplett über ihr ausschütten. Der Regenbogen und das Glockenspiel in mir waren jetzt für sie da und nicht mehr für London. Doch das zeigte ich nur ihr. Auf keinen Fall sollte irgendjemand fragen, ob ich doch dableiben möchte. So sind wir Maierfrauen. Wenn wir eine Entscheidung getroffen haben, die an die Nieren geht, dann ziehen wir das auf Biegen und Brechen durch.
Wir machten uns sehr früh am Morgen aus dem Staub. Sophie schlief noch auf ihre süße Babyart. Ihr Lebkuchenmannschlafanzug hob und senkte sich ganz langsam unter der grünen Decke, und manchmal entfuhr ihr im Schlaf ein kleiner Pups. Ich fühlte mich wahnsinnig schlecht, als ich sie da einfach liegen ließ. Glücklicherweise legte mein Vater sich gleich zu ihr. Aber sie würde ohne uns aufwachen! Zum ersten Mal. Das tat weh. Ich stellte mir vor, wie sie uns suchen würde, weil es ja noch nach uns roch. Und wie sie nicht essen, nicht trinken würde, was meine Eltern ihr anboten. Klar, es sind meine Eltern. Ich weiß ja, dass sie gut mit Kindern umgehen können, hab ich ja selbst schon erlebt. Aber Sophie ist eben ein fragiler Geist. Sophie braucht dieses und jenes. Sie mag das und das wiederum nicht, und wenn man ihre ganz persönliche Reihenfolge nicht einhält, wird sie stinkig. Das können meine Eltern doch alles gar nicht wissen.
Sie hatten mich gebeten, eine Gebrauchsanleitung für sie zu schreiben. Ich malte ein Baby und schrieb mit Pfeilen zu jedem Körperteil etwas auf. Am Ende war das Blatt völlig vollgekritzelt, und da standen dann nützliche Sachen wie »Bei Kälte bitte Handschuhe an« (Kann man sich ja nicht denken) neben dem verlegenen »Bitte nicht heimlich Ohrlöcher stechen« (Kann man ja nicht wissen).
Am Abend vor unserer geheimen Fluchtaktion zeigte ich meiner Mutter noch im besten Ich-zeig’s-dir-Erklärton, wie unser tägliches Abendritual funktioniert. Auf den Arm nehmen, streicheln, eincremen, spielen, windeln, anziehen – wenn man da was falsch macht, kann man die Nacht gleich vergessen. Ist mir zwar noch nie passiert, aber wie gesagt: unvorstellbar fragil, dieses Kind. Meine arme Mutter saß ziemlich verlegen daneben und fühlte sich wahrscheinlich wie der erste Mensch. Aber ich konnte einfach nicht anders.
Wir ritten zum Flughafen, stiegen ins Flugzeug, landeten im Hotel, und ich fing sofort an zu heulen. Sophie fehlte mir so. Und Oscar fehlte sie auch. Wir saßen beide völlig geknickt in diesem stinkigen Hotelzimmer und wünschten uns unser Baby zurück. Ich rief nach langem Zaudern, schließlich wollte ich ja keine Hypermom sein, bei meinen Eltern an, stellte den Lautsprecher an und versuchte, ganz stark zu klingen. Mein Vater sagte, dass alles gut sei. Sophie esse ein bisschen wenig und sei nicht gerade euphorisch, aber sie sei wach und interessiert an allem. Na, Gott sei Dank! Nicht das, was er gesagt hatte, erleichterte mich, sondern dass ich kein Weinen im Hintergrund hörte. Das war die einzig verlässliche Quelle. Denn meine Eltern, das wusste ich, würden mir nicht erzählen, wenn es nicht gut lief. Würde ich schließlich auch nicht machen. Diese Geheimhaltungstaktik wurde uns schon als Kinder gelehrt. Als wir klein waren und bei Oma und Opa die Sommerferien verbrachten, durften wir nie am Telefon sagen, wenn wir uns das Knie aufgeschrammt oder die Nachbarstochter uns an den Haaren gezogen hatte. In diesem Moment im Hotelzimmer verstand ich sehr gut, warum. Ich legte auf, weinte noch zwei Tränen und rauchte erst mal eine. Einfach weil ich durfte.
Die Tage vergingen fliegend schnell. Wir absolvierten das ganze Programm, gingen in Pubs und blieben bis Mitternacht statt bis dreiundzwanzig Uhr wach. Wir liefen absichtlich bei Rot über die Ampel, ohne darüber nachzudenken, von welcher Seite die Autos kommen. Die Abgase waren so schlimm, dass wir auch auf der Straße keine Lust hatten zu rauchen. Wir aßen Fleisch zum Frühstück, planten nichts,
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