Als schliefe sie
heim.
»Milias Stunde hat noch nicht geschlagen«, sagte sie. »Wehe dir, wenn die Stunde gekommen ist, Saada! Geh nach Hause, ich komme gleich nach. So Gott will, geht alles gut aus.«
Die Nonne hatte Recht. Milia überwand das Tal des Todes, getragen von jenem seltsamen Traum, der sich ihr ins Herz prägte. Wieder genesen, entfiel Milia jede Erinnerung an die Krankheit. Ihr entfiel, dass Saada und die Frauen aus dem Viertel sie am Bett beweint hatten wie eine Sterbende. Entfiel, wie es ist, wenn man ins Delirium entrückt ist und der abgemagerte Körper zu einem Schatten verfliegt. Der Traum dagegen, der sie über den Tod hinwegbrachte, blieb ihr im Gedächtnis haften. So, als sei er ihr erst am Vortag oder unzählige Male erschienen. Und nun, während sie Mansûr in solcher Weise von Josef dem Zimmermann sprechen hörte, spulte sich der Traum wieder vor ihren Augen ab. Vielleicht hatte Mansûr ja Recht. Schließlich wurde dieser Heilige, dem Jesus seine Zugehörigkeit zum königlichen Geschlecht Davids verdankte, von der Kirche völlig ignoriert. Ihm zu Ehren gab es keine Feste. Und Wunder wurden ihm auch nicht zugeschrieben. Nicht einmal sein Todestag war bekannt. Starb er vor Jesus’ Kreuzigung? Und wenn ja, wann? Oder starb er erst danach? Aber warum stand er dann nicht zusammen mit Maria am Kreuz? Er scheint ein nebensächliches Werkzeug des göttlichen Willens gewesen zu sein. Also kein Prophet und kein Heiliger. Trotzdem mochte ihn Milia. Denn kaum hatte er die drohende Gefahr gespürt, floh er mit seinem Sohn nach Ägypten. Außerdem weigerte er sich, im Gegensatz zu Abraham, Friede sei mit ihm, seinen Sohn zu opfern. Wäre er noch am Leben gewesen, dann hätte er Jesus bestimmt davon abgehalten, auf dem Eselsfohlen reitend in Jerusalem einzuziehen und sich als König auszugeben. Zweifellos hätte er ihn von jenem Abenteuer abgehalten, das ihn ans Kreuz führte.
Sie, an einem fremden Ort, allein, auf einer grünen Wiese liegend. Vergegenwärtigte sie sich diesen seltsamen Traum, dann begegnete sie darin nie dem eigenen Bild. Wahrscheinlich hat sie sich einfach nur nicht in dem Mädchen wiedererkannt. Bisher war sie nämlich immer, wenn die Kleine auftauchte, sofort mit ihr verschmolzen in der Annahme, sie seien ein und dieselbe Person. In jenem seltsamen Traum dagegen sah sie alles klar und deutlich. Nur sich selbst sah sie nicht. Vielleicht war das der Grund, warum sie panisch wirres Zeug geschrien hatte, sodass die Frauen an ihrem Bett glaubten, sie ringe mit dem Tod und sehe bereits die Geister aus dem Totenreich. Alles sei voll Erde, soll sie geschrien haben. Von den Schreien und der Panik wusste sie später nichts mehr. Nur noch an eines erinnerte sie sich. An einen Jungen. Den ganzen Körper mit Erde bedeckt, liegt er neben ihr. Ihre Lippen sind vor Durst aufgeplatzt. Verdorrtes gelbes Gras legt sich über ihre Augen. Gras klettert an ihr hoch. »Das Kind braucht Wasser«, schreit sie. Ein Mann taucht auf. Wer ist der Mann im Mantel, der über Milia hinwegspringt, den Jungen aufhebt und ins Feuer wirft?
»Warum hast du ihn getötet?«, will sie schreien, doch ihre Stimme ist weg. Das Feuer hat die Stimme der Mutter verschlungen und macht sich nun über den Jungen her.
Sie sieht sich fliegen, ohne Flügel. Sie steht auf einem Berggipfel, unter sich ein felsiger Hang, der steil in ein tiefes Tal mit verdorrtem Gestrüpp und Brombeersträuchern abfällt. Sie sieht einen Mann. Er hebt ein Kind auf, wirft es ins Tal. Das Kind breitet die Arme wie Flügel aus, will fliegen wie ein Vogel. Aber es hat keine Federn an den Armen.
»Wo sind die Federn?«, schreit Milia.
Sie steht auf dem Gipfel. Erstickende Hitze, Brandgeruch. Sie will sich festhalten, sieht ein Seil, klammert sich daran. Das Seil entpuppt sich als verdorrtes Gras, zerbröselt in ihren Händen. Sie sieht sich in den Abgrund stürzen. Sieht das Kind die gebrochenen Arme ausbreiten. Es scheint sie zu erwarten. Sie schreit.
In dem Moment riss Milia die Augen auf und sah die Nonne. Die Nonne hielt sie im Arm, strich ihr über das spröde Haar und schickte Saada ein Glas Wasser holen.
»Das Mädchen ist geheilt. Gepriesen sei der Herr!«, sagte die Nonne. »Bringt ihr ein Glas Wasser und macht Limonade für sie. Sie soll drei Tage lang nur Flüssigkeit zu sich nehmen, und dann ist sie wieder ganz die Alte. Ihr werdet sehen.«
Die Nonne hatte ein Wunder vollbracht. Mit ausgestreckten Armen hatte sie das ins Tal stürzende Mädchen
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