Als schliefe sie
ihn, was vor sich ginge. ›Weiche von mir, Weib‹, erwiderte der Zwölfjährige. Das Evangelium irrt. In Wirklichkeit fuhr Jesus seine Mutter bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa nicht unwirsch an. Nein, in Kana küsste er seiner Mutter die Hand und umarmte sie. Dann vollbrachte er sein erstes Wunder, wandelte Wasser in Wein. Denn er wusste, dass die Zeit gekommen war, sich zu offenbaren. Nach dem Erlebnis unter dem Olivenbaum dagegen war er völlig verschreckt gewesen. Er wollte nicht mit der Mutter sprechen, die ihm das Geheimnis seiner Geburt vorenthielt.
Der Junge führte Josef den Zimmermann zum Olivenbaum und erzählte ihm von der Vision. Der alte Mann fing an zu weinen wie ein Kind, nahm den Sohn in die Arme und küsste ihn. Erst jetzt könne er wieder mit erhobenem Haupt durchs Leben gehen, sagte der Vater. Erst jetzt habe er begriffen, dass seine Träume keine bloßen Phantasien waren und dass Gott ihn auf die Probe gestellt hat wie keinen anderen Propheten. Gott habe seine Würde auf die Probe gestellt. Ganze zwölf Jahre habe er auf diesen gesegneten Augenblick gewartet. Josef kniete nieder und forderte den Sohn auf, es ihm gleichzutun. »Gesegnet sei der Schafsbock, den du gesandt hast, o Herr. Du hast mir die Prüfung des Abraham erspart, der um deines heiligen Namens willen seinen Sohn zu töten bereit war. Gesegnet seist du, o Herr, Gott des Abraham, des Isaak und des Jakob. Denn das ist mein Sohn. Er, der König wird in deinen Augen, der deinen Namen trägt und heilig sein wird bis in alle Ewigkeit. Gesegnet seist du, o Herr, Gott aller Menschen. Denn du hast mich zu deinem Gefährten erkoren, diesem Kind ein Vater zu sein. Von heute an werde ich der Bruder Gottes sein. Ich werde in Abrahams Schoß als dein Freund und Vertrauter sitzen.«
Der alte Mönch Tanjûs erzählte, sein Großvater, ein Priester, sei im Besitz eines geheimen Manuskripts gewesen, das er dem italienischen Pater Bucci, Abt des Franziskanerklosters, entwendet hatte. Darin habe die ganze Geschichte von Josef dem Zimmermann gestanden. Es gebe sogar eine geheime Sekte, erklärte der Mönch, die diesen Mann als Zwilling des unsterblichen Propheten Elias verehre und glaube, dass Gott ihn zehn Jahre vor der Kreuzigung zu sich geholt habe.
Josef der Zimmermann sei aus der Geschichte ausgelassen worden, weil Paulus, der sie niederschrieb, so einiges nicht begriffen habe. Die Beziehung zwischen Sohn und Vater nicht begriffen habe. Und auch nicht, dass Josef, als er in den Himmel fuhr, weinte, weil er mit eigenen Augen sah, was seinem einzigen Sohn widerfahren würde.
Tanjûs führte Milia durch ganz Nazareth. Er stellte eine Verbindung zwischen dem Nazareth von Jesus und dem Nazareth der Franziskaner her, die im 16. Jahrhundert den Grundstein zu der Stadt legten. Er erzählte von seinem Großvater und von dem seltsamen Manuskript, das das Geheimnis Josefs des Zimmermanns enthülle.
»Haben Sie das Manuskript gelesen?«, fragte Milia.
»Nein, das Manuskript ist auf Aramäisch geschrieben. Mein Großvater konnte Jesus’ Sprache sprechen und lesen. Er hat es mir erzählt.«
»Und warum ist Ihr Großvater von den Lateinern zu den Griechisch-Orthodoxen übergetreten?«
»Weil er sich in eine Frau aus dem Haurân verliebte und erkannte, dass Gott sich ausschließlich in der Liebe offenbart. Er suchte den Abt auf und schilderte ihm seine Lage, worauf dieser die Beherrschung verlor. In seinem Tobsuchtsanfall verfluchte der Abt alle Frauen und warf meinen Großvater zur Reinigung von der Sünde für einen Monat in den Klosterkerker. Mein Großvater aber hatte nicht gesündigt. Es war nichts vorgefallen – außer, dass er die Frau an der Quelle am Kloster gesehen und sein Herz verloren hatte und an nichts anderes mehr denken konnte. Also wandte er sich ratsuchend an den Abt. Und zur Antwort erhielt er Gefängnisstrafe, Schläge, Folter. Im Verlies hörte er die Stimme des Engels, und Sankt Josef erschien ihm. Mein Großvater glaubte zuerst, es handle sich um Jakobs Sohn, den Schönling, dem alle Frauen verfielen und der seinen Brüdern ein Dorn im Auge war, sodass sie ihm nach dem Leben trachteten. Gott wolle ihm den rechten Weg weisen, dachte mein Großvater, fiel vor Sankt Josef auf die Knie und bat um Vergebung der Sünde, die er in Gedanken begangen hatte. Da flüsterte ihm der Heilige ins Ohr, dass sich im Schrank des Abts ein gewisses Manuskript befinde, das er unbedingt lesen müsse. Danach werde ihm alles klar werden.
Nach einem
Weitere Kostenlose Bücher