Als schliefe sie
Monat aus dem Kerker entlassen, fand Großvater einen Weg, sich das Manuskript zu beschaffen. Die Wahrheit kam ans Licht, und er beschloss, die Kutte abzulegen, er heiratete und wurde ein Griechisch-Orthodoxer.«
»Aber Sankt Josef war kein…«
»Alles nur Gerede. Du glaubst doch hoffentlich nicht diesen Quatsch, mein Kind! Das sind Lügenmärchen, die sich irgendwelche verklemmte Geistliche ausgedacht haben. Dass Sankt Josef – Gott bewahre – impotent war, dass er in der Schreinerei einen Arbeitsunfall hatte und seine Männlichkeit verlor, ist alles erstunken und erlogen. Kein Heiliger ist impotent. Vor allem nicht der Herr Jesus Christus, gepriesen sei er. Glaub bloß nicht diesem Geschwätz, mein Kind. Der Mann war Witwer, er hatte fünf Kinder, und die Geschichte, wie er unsere liebe Frau heiratete, ist umwerfend. Hör sie dir an, mein Kind!«, schwärmte er und trug einen Text vor, als hätte er ihn geschrieben vor sich.
»Und Maria, Tochter des Joachim und der Hanna, war von Geburt an dem Tempel versprochen, führte dort ein frommes Leben, nähte das Porphyrzelt und betete. Sie nahm zu an Gestalt und Anmut. Als sie die Reife erlangte, berieten sich die Ältesten des Tempels und beschlossen, dass sie den Tempel verlassen und heiraten solle. Unter den Männern war ein weiser Alter mit Namen Josef, bekannt als der Zimmermann. Josef schlug den Versammelten vor, gemeinsam zu beten und von Gott ein Zeichen zu erbitten. Als sie am Abend den Tempel verließen und nach ihren Gehstöcken griffen, die sie vor der Tür abgestellt hatten, sahen sie aus Josefs Stock violette Blumen sprießen. Da riefen sie wie aus einem Mund: ›Er ist es.‹ ›Ich?‹, fragte Josef. ›Wie könnte ich diese Jungfrau nehmen? Wie könnte ich sie heiraten? Sie ist im Alter meiner Töchter. Ich bin ein alter Witwer, der seine letzten Tage zählt. Weise ist ein Mann, der weiß, dass der Mensch welkt wie eine Blume auf dem Feld, dass der Körper zu Staub zerfällt und dass das Leben nichts als eine Reihe von Verlusten in Erwartung des großen Verlustes ist.‹ Die Weisen des Tempels aber hatten angesichts des Wunders, das sich vor ihnen an dem Stock offenbarte, ihren Entschluss gefasst. Da nahm Josef die Frau und ehelichte sie. Und bevor er ihr beiwohnte, erkannte er, dass sie schwanger war. Er weinte bitterlich… und… den Rest der Geschichte habe ich dir erzählt.«
»Was heißt Porphyr?«
»Rot«, sagte der Mönch.
»Aber warum klingt es so, als würden Sie die Geschichte vorlesen? Sie haben doch gesagt, dass das Buch auf Aramäisch geschrieben ist. Wieso können Sie es da also aus dem Gedächtnis auf Arabisch vortragen?«
Statt sich über den Bart zu streichen, die Augen zu schließen und ihre Frage zu beantworten, betrachtete er sie eindringlich und sagte: »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Ich habe Angst um dich, Milia. Komm mit. Ich zähle die Tage, denn ich warte auf dich. Ich werde dich an der Hand durch das Tal führen, damit du es unbeschadet durchquerst. Was denkst du?«
Bevor sie etwas sagen konnte, war er verschwunden. Wie von einer Staubwolke erfasst und davongetragen, war er von einem Moment auf den anderen fort.
Sie fürchte sich, sagte Milia zu dem italienischen Arzt. Der alte Mann im weißen Kittel beugte sich vor und warf einen Blick zwischen ihre Beine, die sie, auf dem Halbbett liegend, auf Anweisung der Krankenschwester aufgestellt hatte. Der Arzt verließ den Raum, und dann war sie allein. Die Schmerzen ließen nach, bis sie schließlich kaum mehr zu spüren waren. Als sei die Schwangerschaft überstanden, holte Milia tief Luft. Plötzlich wieder leicht und unbeschwert, hob sich der schwarze Schatten von ihren Augen. Sie senkte die Lider, um sich auszuruhen. Und da sah sie ihn.
Wie war der Mönch in das Krankenhauszimmer gekommen?
Er ist staubbedeckt und scheint von weit her zu kommen. Er tritt näher, in der Hand ein längliches Weihrauchfässchen, aus dem alles vernebelnder weißer Rauch aufsteigt. Im dichten Rauch sieht Milia ein kleines Mädchen die Luft emporklettern und sich auflösen. »Nein, das ist nicht meine Tochter. Ich bekomme einen Jungen, kein Mädchen«, sagt Milia und erkennt, dass das Mädchen sie selbst ist. »O Gott, Gebären ist schrecklich mühsam. O Mutter des Lichts! Jetzt wird mir klar, wie sehr du gelitten hast. Man kennt sich selbst nicht mehr.« Das Mädchen geht in Rauch auf. Der Rauch verdichtet sich. Nun ist nur noch der alte Mönch da.
»Lassen Sie mich in
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