Als schliefe sie
aufgefangen. Das war das Letzte, was die Nonne für Milia getan hat.
»Ich sah sie fallen. Da brach ich das Gebet ab und rannte her. Ohne die Gnade Gottes wäre ich vielleicht zu spät gekommen. Ich streckte die Arme aus und fing sie auf. In dem Moment öffnete sie die Augen und war vom Tod gerettet. Das ist das zweite Mal. Das erste Mal war bei ihrer Geburt. Damals habe ich sie aus dem Bauch ihrer Mutter gezogen. Die Gebärmutter symbolisiert das Grab. Mit der Geburt übt der Mensch die Auferstehung. Und bei der Taufe, von Kopf bis Fuß untergetaucht, wird er im Wasser beerdigt, damit der alte Mensch stirbt und der neue aufersteht. Ich habe die Stimme des unsterblichen Sankt Elias gehört. Ich stand da und betete, als ich plötzlich eine Stimme aus der Ikone hörte. Sankt Elias fuhr in seinem Feuerwagen, den Blick gen Himmel gerichtet. ›Mîlâna‹, sagte er, ›lauf schnell zu Saada nach Hause und fang Milia auf, bevor sie ins Tal stürzt. Sag ihrer Mutter, dass es das letzte Mal ist. Denn beim dritten Mal wirst du nicht hier sein. Und sie wird auch nicht hier sein. Der einzige Beistand, den sie dann haben wird, ist ihr Sohn.«
Wann hat die Nonne das von sich gegeben? Nachdem Saada ihr von Milias Traum erzählt hatte?
»Die Nonne lügt«, sagte Milia. »Ich glaube ihr kein Wort. Nein, es war vielmehr so: Sie saß bei mir am Bett und hörte mich sagen, dass ich falle. Wieder zu mir gekommen bin ich, weil mein Herz gefallen ist. Fällt nämlich ein Mensch, dann fällt vorher sein Herz. Ich habe ihr gesagt, dass mein Herz gefallen ist, weil ich ins Tal stürzte. Und daraufhin hat sie sich diese Geschichte zusammengereimt. Außerdem, wieso soll die Gebärmutter ein Grab sein? So etwas zu behaupten ist gottlos. Eure Freundin, die Nonne, hasst mich. Schließlich, Mutter, hält sie meine Träume für Teufelswerk und will, dass ich mit dir in die Kirche komme und bete, um die Träume zu vergessen.«
Ihre Träume hat Milia nicht vergessen. Aber die Weissagung der Nonne, dass sie in ihrem Sohn den einzigen Beistand finden würde, hat sie vergessen. Und nun stand der Mann, ihr Ehemann, da und verfluchte den Mönch. Jenen Mönch, der Milia Nazareths Geschichten erzählt, sie zu einer Ruine unweit der Verkündigungskirche geführt und sie angewiesen hatte, erst eine vollständige Verbeugung zu machen und dann einzutreten. Denn an diesem geheimen Ort, den kein Mensch je betritt, habe der Herr mit Mutter und Vater gelebt. Hier habe er laufen gelernt. Und hier habe er die Eingebung empfangen, dass er Gottes einziger Sohn sei.
Der Mönch führte Milia an einen verdorrten Olivenbaum. Der sei eingegangen, erklärte er, als Josef der Zimmermann von den Römern festgenommen wurde. Wahrscheinlich sei Josef etwa zehn Jahre vor der Kreuzigung seines Sohnes verschleppt und umgebracht worden. Wäre er am Leben gewesen, hätte er nicht zugelassen, dass Jesus ans Kreuz geschlagen wird.
Im Alter von zwölf Jahren habe Jesus hier unter dem Baum die göttliche Botschaft erhalten. Aber wie konnte er begreifen, was der Engel ihm im Traum einflüsterte? Er lag unter dem Baum, hörte ein Flattern und sah einen Engel mit sechs Flügeln um sich herumschwirren, dessen gleißendes Weiß ihn sofort blendete. Dann hörte er eine Stimme. Er sei der erwartete Messias, sprach die Stimme zu ihm. Gott habe ihn seit Anbeginn der Zeiten als seinen Sohn auserkoren. Er werde den Thron seines Ahnen David besteigen und König bis in alle Ewigkeit sein.
Verstört und mit unbeschreiblichem Durst erwachte der Junge. Unfähig auch nur ein einziges Wort von sich zu geben, schwieg er drei volle Tage. Wie traumatisiert war er. Soviel er auch trank, der Durst war nicht zu löschen. Seine Mutter spürte, dass eine Erscheinung dahintersteckte. Denn bei Zacharias, so ging ihr durch den Kopf, war es ähnlich gewesen. Er hatte die Sprache verloren, als der Engel ihm die Schwangerschaft seiner Frau verkündete. Maria aber sagte ihrem Mann von alldem nichts. Seit ihrem Aufenthalt in Ägypten, nein, schon seit ihrer Schwangerschaft und den wiederholten Anläufen, Josef reinen Wein einzuschenken, herrschte zwischen den Eheleuten eine gewisse Sprachlosigkeit. Sobald sie den Mund auftat, hieß er sie mit einem Handzeichen schweigen und schüttelte den Kopf, wie um zu sagen, dass sich Worte erübrigten, weil er über alles im Bilde sei. Als er mit dem Sohn vom Olivenbaum zurückkam, sprach sie ihn an. Doch er wandte sich von ihr ab. Also trat sie an den Jungen heran und fragte
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