Als schliefe sie
wieso es mir nicht von Anfang an aufgefallen ist.«
»Ich bin doch ihr Sohn! Aber du hast Unrecht. Ich bin nicht wie sie. Ich erfülle nur meine Pflicht gegenüber meiner Mutter, den Kindern und der Frau meines Bruders.«
»Gott sei Dank bist du kein Muslim! Sonst würdest du womöglich noch die Frau deines Bruders heiraten und mir eine Nebenbuhlerin ins Haus setzten, jetzt, wo du entdeckt hast, wie schön sie ist!«
. . .
»Nimm es nicht krumm. Das war ein Scherz. Ach, ich weiß auch nicht.«
Ach, ich weiß auch nicht, sagte sie, um nicht sagen zu müssen, dass sie ihn mit Asma gesehen hat in dem Traum, in dem er aussah wie Nadschîb.
Bisher hatte sich Mansûrs Bild noch nie mit dem Bild jenes Mannes vermischt, der sang- und klanglos aus ihrem Leben verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Für gewöhnlich verschmolz Mansûr mit Mûsa. Wann immer sie Mûsa im Traum sah, wusste Milia, dass die Botschaft, die Mansûr betraf, sie über eine andere Person erreichte. Erst im letzten Traum zeigte sich Mansûr. In dem Traum, in dem Milia erkannte, dass das Ende aller Dinge dem Anfang gleicht.
Es sieht aus wie in dem Garten des alten Hauses. Aber es spielt sich nicht in Beirut ab. Es ist Jaffa. Meeresgeruch vermischt mit Orangenduft. Nadschîb schält eine Orange. Er steht neben einer mittelgroßen Frau. Sie ist kräftig gebaut, aber nicht dick. Bist du Nadschîb?, will das Mädchen den Mann fragen. Wer ist diese Frau? Wie kommt Asma hierher?
Milia versteckt sich hinter einem Jasminstrauch mit verzweigtem, in sich verschlungenem Stamm. Orangen, Meersalz, Feuchtigkeit dringen in ihre Poren ein. Der Mann, der wie Nadschîb aussieht, hält eine Orange in den Händen, spielt mit ihr. Er greift der Frau mit der linken Hand an die Brust und zaubert eine zweite Orange hervor. Die Frau stöhnt.
Das Messer in der rechten Hand. Nadschîb greift der Frau mit der linken Hand an die Brust, holt eine Orange hervor, beginnt sie zu schälen. Die Frau weint. Sie scheint Schmerzen zu haben. Der Mann verschlingt die Orange. Er legt das Messer beiseite und tritt an Asma oder die Asma-ähnliche Frau heran. Er legt die Lippen an ihre Brust, die zu einer halben Orange geworden ist, und küsst sie.
»Was machst du hier, Nadschîb? Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will«, sagt das kleine Mädchen, das mit einem Messer in der Hand hinter dem Jasminstrauch hervortritt.
»Wer bist du?«, fragt der Mann mit plötzlich verändertem Gesicht.
. . .
»Nein, du kannst unmöglich Milia sein. Wo sind deine grünen Augen?«
Woher kannte der Mann, der wie Nadschîb aussah, ihre Augenfarbe?
»Geh zurück in dein Land, mein Kind, und lass mich in Ruhe!«
Der Mann beugt sich erneut über die Brust der Frau, und es tropft orange aus seinem Mund.
In dem Moment verschwinden beide. Milia weiß nicht, wohin der Mann die Frau gebracht hat.
Sie legt sich ins Gras, und dann ist der Mann da, der wie Mansûr aussieht.
Die Frau weint, als würde der Mann mit dem Messer sie schlagen. Milia hört, wie die Frau den Mann anfleht, versteht aber kein Wort. Sie scheint in einer fremden Sprache zu sprechen. Ja, vielleicht spricht sie Deutsch. Aber Deutsch klingt anders. Ich kann kein Deutsch. Hier im Libanon lernen wir Französisch in der Schule. Nein, das ist kein Deutsch. Es klingt wie Arabisch. Aber ich verstehe kein Wort. Unverständliches Arabisch also.
»Gestern hast du Hebräisch gesprochen. Wieso kannst du Hebräisch?«
»Ich?«
»Ja, du. Wer denn sonst?«
»Wo?«
»Das spielt keine Rolle. Aber ich wüsste es gern.«
»Nein, ich kann kein Hebräisch. Zwei, drei Wörter vielleicht. Aber mein Bruder konnte es.«
»Vielleicht war das ja dein Bruder.«
»Was ist mit meinem Bruder? Gott hab ihn selig.«
»Nichts, vergiss es. Wichtig ist, dass du dich ausruhst und anfängst die Sachen zu packen. Wir müssen nach Jaffa ziehen, sobald du entbunden hast.«
»Nein, wir taufen das Kind hier, und dann, wenn du willst, gehen wir.«
»Wie du möchtest. Also erst vierzig Tage danach. Deshalb müssen wir jetzt schon mit den Vorbereitungen beginnen.«
»In Ordnung.«
Die Frau weint. Plötzlich ist sie verschwunden. Steht nicht mehr vor Nadschîb oder dem Nadschîb-ähnlichen Mann. Sie ertrinkt in Tränen. Milia, versteckt hinter dem Jasminstrauch, sieht und sieht nicht. Wann immer sie sich diesen Traum zu vergegenwärtigen sucht, erscheint ihr ein verschwommenes Bild von einem Mann mit zerzaustem Haar, Orange und Messer und von einer
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