Als schliefe sie
sichtbar, erwachte sie zu einer völlig neuen Frau. Die schwarzen Augen offenbarten ihre Schönheit. Nun war sie die Herrin im Haus. Schlagartig hatten sich die Rollen verkehrt. Er sei überrascht, wie attraktiv Asma sei, sagte Mansûr. »Wo hatte sie all diese Schönheit versteckt? Wie kann eine Frau erstrahlen, wenn ihr Mann stirbt? Früher hat man die Frau mit dem Ehemann beerdigt, weil sein Tod das Ende ihres Lebens bedeutete. Schau nur, wie schön sie auf einmal ist!«
»Ich kann meine Mutter nicht allein lassen«, sagte Mansûr.
»Jetzt auf einmal ist in dir die Liebe zu deiner Mutter erwacht? Was soll ich dazu sagen? Es wird nach deinen Vorstellungen laufen. Aber ich habe Angst um dich und meinen Sohn. Ich meine, wir müssen doch nicht unbedingt so sterben wie dein Bruder.«
Wie hatte Mansûr zu dieser neuen Sprache gefunden? Er stand in der Küche und erzählte ihr von dem Dichter-Ritter Abd ar-Rahîm Mahmûd 12 :
»Ich entlasse nun, dem Abgrund zugewandt,
meine Seele aus der offnen Hand.
Ich will ein Leben, das den Freund erfreut,
oder sterben, dass es den Feind gereut.«
»Das ist keine Poesie«, sagte Milia. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass das an die Poesie von al-Mutanabbi heranreicht:
Riskiere alles für den ersehnten Glanz,
verlang nicht weniger als der Sterne Tanz.
Ob klein, ob groß – der Grund ist ihm egal,
im Mund des Sterbenden schmeckt jeder Tod nur schal.«
»Nein, nein. Noch viel schöner ist dieses hier«, sagte Mansûr:
»Wie auf dem Lid eines nur schlummernden Verderbens,
stehst du und lachst im Angesicht des Sterbens
der Feinde, die dir schmählich unterlegen.
Der Tod ist sicher dem, der zu verwegen.«
»Aber noch mehr liebe ich diese beiden Verse«, sagte Milia:
»Nur ein einziges Mal war ich nicht hier,
allein im Tod werd ich nun von dir gehen.
Die Nacht lässt dich, so scheint es mir,
mich zart und zerbrechlich sehen.«
»Jetzt ist nicht die Zeit für Liebesgedichte«, sagte er. »Hör:
Ehre erlangt man nicht bei Wein, Weib und Gesang,
nur in dem Kampf um eines Königs Untergang.
Ruhm allein bringt, wenn man siegend sieht,
wie der Feind im Staub vom Felde zieht.«
»Bring mir wahre Poesie, bring mir einen Dichter wie Abu at-Tajjib al-Mutanabbi, und ich werde mit dir ziehen, wohin du willst. Dann schmeckt Krieg wie Poesie, und Poesie schmeckt wie Liebe. Aber das Gedicht von dem, der seine Seele auf der Hand trägt…«
»Das ist ein großer Dichter. Er hat nicht nur geschrieben. Nein, er hat sich auch bewaffnet, ist in den Krieg gezogen und gefallen. Seinem Sohn hat er, in Anlehnung an Abu at-Tajjib al-Mutanabbi, den Namen Tajjib gegeben, damit die Leute ihn Abu at-Tajjib, Vater des Tajjib, nennen und er das Gefühl hat, er sei al-Mutanabbi.«
»Alle Ehre den Märtyrern. Aber der Dichter dieses Landes ist noch nicht geboren. Und wenn er eines Tages kommt, dann werdet ihr Palästinenser erkennen, dass dieses Land nur mit Poesie gestaltet werden kann. Dieses Land ist nicht Land. Es ist das Wort, verschmolzen mit Geschichten. Seit der Messias dieses Land durchwanderte, besteht der Boden aus Buchstabe und Wort. ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹ Das heißt, er ist das Wort. Und Poesie ist die höchste Stufe des Wortes. Irgendwann, mein Lieber, in ungefähr fünfzig Jahren, wenn in diesem Land ein großer Dichter geboren wird, erkennt ihr, dass ihr den Krieg nur mit Worten gewinnen könnt. Denn das Wort ist mächtiger als das Schwert.«
»Erstens sollst du nicht von ›ihr‹ sprechen. Oder gehörst du nicht zu uns?«
»Du hast Recht. Entschuldige. Ich bin zu ›wir‹ geworden. Und wenn ich ›euch‹ sage, meine ich ›uns‹.«
»Zweitens werden wir keine fünfzig Jahre warten, bis dein Dichter erscheint. Wir werden mit der Poesie kämpfen, die wir zu schreiben vermögen. Und wir werden siegen.«
»Das weiß ich nicht«, sagte sie.
»Ob du es weißt oder nicht, interessiert mich nicht. Denn drittens weiß ich nur, dass mein Bruder tot ist und ich meine Mutter nicht allein lassen kann.«
»Merkst du eigentlich, dass du schon die gleiche Art hast wie deine Mutter? Du gähnst wie sie. Wenn du dich ärgerst, saugst du an den Lippen – genau wie sie. Und zum Schlafen knickst du das Kissen unter dem Kopf – genau wie sie. Mein Gott, wie du dich verändert hast!«
»Ich war schon immer so.«
»Kann sein. Aber ich habe es nicht gesehen. Es ist, als wärst du ihr Sohn. Ich weiß auch nicht,
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