Als schliefe sie
Zimmermanns geschrieben haben soll. Auf Aramäisch. Es soll die Jesus-Geschichte erzählen, aber in abgewandelter Form – also anderes als die vier auf Griechisch verfassten Evangelien. Danach habe sich Josef geweigert, die Idee von der Kreuzigung des Messias zu akzeptieren, und stattdessen das Gleiche tun wollen wie Abraham, als Gott von ihm verlangte, seinen einzigen Sohn zu opfern. In dem Evangelium sollen außerdem jede Menge weiterer Ketzereien gestanden haben, die Josef den Zimmermann auf eine Stufe mit dem Propheten Elias stellen. Tanjûs sei, so sagte der alte Mönch, verrückt und wohl auch von diversen Teufeln besessen. Deshalb wurde er aus dem Kloster gejagt. Er sei dann in seine Heimat, den Libanon, gegangen und habe versucht, seine Behauptung in dem heiligen Tal – also dort, wo die maronitischen Mönche leben – zu verbreiten. Die Maroniten seien, so Tanjûs’ Überzeugung, dem Glauben treu geblieben, weil sie in ihren Gebeten nach wie vor das Aramäische, die Sprache Jesu, benutzten. Die Mönche im Qâdîscha-Tal aber hätten ihn verspottet, ja sogar ins Tal der Irren verbannt, ihn dort gefesselt und ohne Wasser und Essen in eine dunkle Höhle geworfen. Gott habe ihm, wie es heißt, durch einen großen weißen Adler, dessen Flügel den Himmel verdunkelten, Essen geschickt. Außerdem habe Gott ihm einen Engel in Gestalt eines Tigers geschickt, der ihn von den Ketten befreite. Das seien aber alles Lügengeschichten. Tanjûs sei verrückt. Der Abt habe gesagt, dass diese Art Wahnsinn in dem Land, aus dem sämtliche Propheten hervorgegangen sind, weit verbreitet sei. Dass in dem Land ein Dauerstreit zwischen Gott und den Teufeln tobe, dass viele Menschen kaum mehr klar sehen und die Stimme Gottes nicht von der des Teufels unterscheiden könnten. Und dass der libanesische Mönch als Opfer dieser Verwirrung zum Spielball der Teufel geworden sei.«
»Und du glaubst ihm?«
»Das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass ich jetzt dir glaube. Zuerst dachte ich, dieser Mönch ist ein Hirngespinst. Trotzdem. Du darfst ihm nicht glauben. Das ist kein Heiliger, wie du meinst, sondern ein Teufel.«
»Keine Ahnung«, sagte Milia.
Sie wusste nicht, wie sie Mansûr von der ersten Begegnung mit dem Mönch hätte erzählen sollen. Hatte sie von Tanjûs geträumt, bevor sie ihn sah, oder umgekehrt? Die Träume halten ihre Türen verschlossen, bis zu dem Furcht erregenden Augenblick, wenn die Welt endet, wenn alles ineinander verschmilzt, wie Milias Großmutter inbrünstig die Worte des weisen Salomon zitierte: »Es ist alles ganz eitel. Es ist alles ganz eitel.« 13 »In dem Moment«, so sagte die Großmutter, »geht alles in Licht auf und wir sehen, was das Auge nicht sieht. Wir erkennen alle Menschen. Die, die wir kennen, und die, die wir nicht kennen.«
War das von dem Mann auf das Fensterbrett gestellte Weinglas Traum oder Wirklichkeit? Woran hat sie ihn erkannt, als sie ihm auf der Straße vor der Jungfrauenquelle begegnete? Sie erinnerte sich noch genau. Er war auf sie zugekommen und hatte sie aufgefordert, ihm zu folgen. »Nur eines ist not, Marta. 14 Komm, folge mir.«
Und sie folgte ihm.
Sie wolle schlafen, sagte sie zu Mansûr. Denn in ihrem Gedächtnis war alles durcheinander geraten. Mansûr hatte sich verändert, und sie hatte sich verändert. Ein Jahr war genug, um das Leben davongleiten zu sehen und sich innerlich uralt zu fühlen. Milia war erschöpft vom Leben und von den Veränderungen. »Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.« 15
Fotos von ihrer Schwiegermutter oder von Asma zu sehen stimmte Milia traurig. Was hatte das zu bedeuten? Warum hatten sich im Haus so viele Fotos angesammelt? Am Tag ihrer Hochzeit hatte der Fotograf von dem Brautpaar Aufnahmen im Haus und in der Kirche gemacht und Milia, der Tränen in den Augen standen, immer wieder gebeten, doch bitte zu lächeln. Das Kameraauge und das schwarze Tuch, unter das der Fotograf den Kopf steckte, waren Milia im Gedächtnis haften geblieben. Sie hatte die Befürchtung, dass er – ebenso wie der von Mûsa beauftragte Fotograf aus Zahle – ihre Augenfarbe einfangen könnte. Also hatte sie die Lider gesenkt, worauf der Fotograf sie zunächst freundlich und schließlich entnervt aufforderte, die Augen zu öffnen, damit Licht ins Bild käme. Auf einen Sprung in Beirut, um von dort nach Nazareth aufzubrechen, hatte sich Mansûr nicht darauf eingelassen, »nur zwei Tage länger zu
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