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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Khoury
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erstarb. Sie nahm sich vor – wie sie jetzt im Nachhinein behauptete –, nie wieder in die Gewohnheiten oder den Tonfall ihrer Mutter zu verfallen. Und ab dem Zeitpunkt wurde sie ruhiger und nahm alles hin. In der Anfangszeit in Nazareth aber hallte ihr auf einmal die Stimme der Mutter aus der Erinnerung entgegen. Sich an Stimmen zu erinnern ist beängstigend. Nein, im Traum hört man nicht die Stimme der Person, die zu einem spricht. Vielmehr erreichen einen die Worte tonlos, stumm. Das macht den Zauber und das Mysterium der Träume aus. Bricht aber die Stimme eines in der Ferne befindlichen oder verstorbenen Menschen aus dem Gedächtnis hervor und hört man sie tatsächlich mit eigenen Ohren, dann ist man fassungslos. Milias Fassungslosigkeit, ihre Mutter hören und mit ihr sprechen zu können, schlug in Angst um. Denn diese Frau, die für Milia stets Abwesenheit verkörperte und ihr das Gefühl gab, eine Waise zu sein, bewies nun unerwartet Anwesenheit. Milias Selbsthass in Nazareth resultierte nicht aus der Anwesenheit der Mutter. Nein, vielmehr erkannte sie, dass die Mutter, selbst wenn sie abwesend war, sprachlich eine Notwendigkeit darstellte. Ruft der Mensch seine Mutter, dann nicht, weil er an die Frau denkt, die einen geboren hat, sondern weil die Lippen wie von selbst die Laute »M« und »A« formen. Milia sollte im Italienischen Krankenhaus in Nazareth auf dem Gipfel des Schmerzes dieses Zauberwort rufen. Und kurz darauf hörte Mansûr den Schrei des soeben aus dem Bauch der Mutter geschlüpften Kindes. Das Zauberwort rief sie nicht, weil sie die Mutter sah oder spürte. Nein, vielmehr sah sie die Welt von lichtstrahlendem Weiß umkränzt.
    Milia merkte, wie Mansûrs Stimme mehr und mehr mit der Stimme seiner Mutter verschwamm, und sagte es ihm. Er gab sich unbeeindruckt und behauptete, schon immer so gesprochen zu haben, achtete aber von da an bewusster auf sich selbst und vermied es, in die Verhaltensmuster seiner Mutter abzugleiten. So unterließ er es seither auch, mit aufgerissenem Mund und einem lauten »ach herrje«-Seufzer zu gähnen.
    Mansûr dagegen entging eine wesentliche Veränderung an Milia. Nämlich, dass sie kaum mehr sprach, und wenn sie es tat, dann so wie der Mönch. Sobald sie sprach, hatte sie das Gefühl, die Stimme jenes seltsamen Mannes beschleiche sie, der Mansûr zufolge nicht wirklich existierte, sondern ihrer Phantasie entsprang.
    An jenem Tag, als Milia erschöpft heimkehrte, das Gesicht vom Schmerz der Wehen noch gezeichnet, war Mansûr bereits zu Hause. Allein saß er da, vor sich eine Handvoll geröstete Kichererbsen.
    »Du hast bestimmt Hunger«, sagte Milia und eilte in die Küche, um Essen zu machen.
    »Nein, ich habe keinen Hunger. Komm, setzt dich her. Ich habe mit dir zu reden.«
    Sie nahm neben ihm Platz.
    Er bitte um Verzeihung, sagte Mansûr, aber es wundere ihn, dass sie dem Mönch begegnet sei. Tanjûs sei vor zwanzig Jahren aus dem Franziskanerkloster gejagt worden und lebe nun irgendwo unter freiem Himmel. Hin und wieder sehe man ihn in der Mardsch-bin-Âmir-Ebene. Er komme nur selten nach Nazareth, um in einer Höhle, in der seiner Ansicht nach die heilige Familie gelebt habe, zu beten. Bei den anderen Mönchen sei er verschrien. Sobald er sich in ihrer Nähe nur blicken ließe, schlügen sie ihn mit Steinen in die Flucht.
    Er habe sich Sorgen gemacht und sie im Kloster gesucht, sagte Mansûr. Lange habe er an das Tor geklopft, bis ihm schließlich ein alter Mönch öffnete, der kaum Arabisch sprach. »Ich fragte ihn nach dir. Frauen kämen nie zu ihnen, erklärte er verwundert und wollte mir das Tor schon vor der Nase zuschlagen. Aber ich bat ihn um Auskunft über den libanesischen Mönch. Er zögerte, schlug mehrmals das Kreuz und fragte mich, ob ich mit ihm verwandt sei. Ich habe gelogen und bejaht. Das habe er sich bereits gedacht, sagte er, wegen meines libanesischen Dialekts. Ich habe keine Ahnung, wieso er der Meinung ist, dass ich libanesischen Dialekt spreche. Vielleicht ist es ja dein Einfluss auf mich, Madame Milia. So kannst du jedenfalls nicht mehr behaupten, dass ich rede wie meine Mutter. Stimmt es, dass ich einen libanesischen Akzent habe?«
    »Was weiß ich.«
    »Und du sprichst mittlerweile palästinensischen Dialekt. Im Grunde ist es ja ein und dasselbe. Jedenfalls hat mir der alte Mann die ganze Geschichte erzählt. Tanjûs wurde aus dem Kloster gejagt, weil er behauptete, ein Evangelium gefunden zu haben, das ein Lehrling Josefs des

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