Als schliefe sie
denkst an die Heiligen! Nicht zu fassen!«
Warum hatte sie Saidnâja bei Damaskus aufgesucht? Warum hatte sie sich die ewig lange Treppe hinunterbemüht in den Felsspalt, der sich wie eine gewaltige, von Gott in Stein gemeißelte Gravur vom Hügel hinab ins Tal zieht?
»Der Besuch in Saidnâja ist unerlässlich«, hatte die Nonne bestimmt. »Ich habe ein Gelöbnis für das Mädchen abgelegt, also muss ich sie auch dahinbringen. Los, Saada, komm mit!«
Saada aber war krank und außerstande, die lange Reise nach Damaskus anzutreten. Daher beschloss die Nonne, sich mit Milia allein aufzumachen.
Auf dem Weg nach Damaskus sah Milia die Höhen des Dahr al-Baidar zum ersten Mal. Milia sollte, so Schwester Mîlânas Plan, die Sankt-Elias-Grotte am 19. Juli, also am Jahrestag des im Feuerwagen gen Himmel gefahrenen Propheten, besuchen, wenn die Leute Freudenfeuer anzündeten, Dattelkuchen aßen und die ganze Nacht zu Ehren des beliebtesten Heiligen der Region Lieder sangen.
Milia war elf Jahre alt. Ausgemergelt nach dem hartnäckigen Fieber, von dem sie gerade genesen war. Sie fürchtete sich vor dem Propheten, den sie besuchen sollte.
»Hör mir gut zu, mein Kind«, hatte die Nonne sie angewiesen. »Wenn du zu ihm hineingehst, musst du mit ihm reden. Deine ganze Zukunft hängt von diesem Besuch ab. Sankt Elias hat dich vor dem Tod bewahrt. Denn er ist der einzige Heilige, der nicht gestorben ist. Er verabscheut den Tod. Gott hat ihm einen Feuerwagen geschickt und ihn in den Himmel geholt. Jetzt ist er dort oben und lebt mit ihnen. Er ist der Einzige, der am Leben ist.«
»Hat er keine Angst?«, fragte Milia.
»Wovor soll er Angst haben, mein Kind?«
»Vor den Toten. Er lebt doch mit den Toten.«
Die Nonne lachte über so viel Naivität und offensichtliches Unverständnis. Sie wollte Milia sagen, dass der Prophet jetzt mit den Cherubim und Seraphim zusammenlebe. Wie aber hätte sie ihr diese beiden komplizierten Wörter erklären sollen? Erklären sollen, dass damit die Engel gemeint waren? Erklären sollen, dass Gott seinen Propheten am Leben gelassen hatte, damit jemand den Messias empfängt, wenn der auf die Erde zurückkommt?
»Du sollst so etwas nicht sagen, mein Kind«, wies die Nonne sie zurecht. »Das sind Dinge, die wir nicht verstehen. Glauben ist wichtiger als Verstehen. Sobald du bei ihm bist, legst du einfach dein Herz in seine Hände.«
Auf dem Dahr al-Baidar sah Milia zum ersten Mal in ihrem Leben Nebel. Eine leichte weiße Wolkendecke, die auf den Bergen lag und die Erde berührte. Der Geist des Propheten habe sich in Dunst verwandelt und sie auf dem Weg hinauf zu ihm berührt, sagte sie zu Mûsa. In Damaskus, vom Zauber der Düfte überwältigt, im Ohr die Worte der Nonne, dass Apostel Paulus auf der Reise in diese Stadt zum rechten Weg gefunden habe, erwachte in Milia der Wunsch, dort zu bleiben. Sieben Flüsse, Barada genannt, durchflossen die Stadt und machten aus ihr ein auf Jasminduft treibendes Schiff. Im Schatten der Nonne zog das Mädchen nach Saidnâja, trat in andere Sphären ein, sah, wie sich in jenem von Kerzen erleuchteten Raum unzählige Ikonen aneinanderschmiegten und die Heiligenbilder mit den Schatten der andächtig im Halbdunkel knienden Menschen verschmolzen. Die Nonne hieß Milia niederknien. Da kniete Milia nieder. Sie hieß sie die Marienikone küssen. Da küsste Milia die alte Holzikone. Sie hieß sie das Vaterunser aufsagen. Da sagte Milia das Vaterunser auf. Dann ergriff die Nonne Milias Hand, hieß sie aufstehen und führte sie hinaus in den Hof des Klosters. Ob sie Gott gesehen habe, fragte sie das Mädchen.
Milia verstand nicht, was sie hätte sehen sollen. Sie dachte, der halbdunkle Raum voller Ikonen sei die Sankt-Elias-Grotte gewesen. Dachte, das Gelübde sei erfüllt, und sie könne nun wieder heimfahren. Die Nonne aber hielt Milias Hand weiter fest in der ihren und erklärte, dass sie sich erst am Anfang der Reise befänden.
Milia stand vor einem felsigen Abstieg, der sich vom Hügel steil hinunterschlängelte. Da sah sie Gott. Den Himmel wie von Vogelfedern geziert. Den Horizont endlos weit. Dann die Grotte. Milia erinnerte sich noch genau, wie sie die zweihundert Steinstufen hinabgestiegen war. Erinnerte sich, wie sie gekeucht hatte. Erinnerte sich, dass ihr schwindlig war. Erinnerte sich, wie der alte Scheich mit langem Bart sie an die Hand genommen und ihr gesagt hatte, dass sie sich hinlegen und keine Angst haben solle. Wie sie den langen Weg wieder
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