Als schliefe sie
Geschichten über mich als Zweijährige erzählte. Sie wiederholte immer und immer wieder die gleichen Geschichten. Dabei tat sie jedes Mal so, als erzählte sie sie zum ersten Mal. Am Ende haben wir ihr geglaubt, und ich habe die Geschichten als meine angenommen. Und bei dir ist es genauso. Du machst, dass ich alles glaube. Wenn du erzählst, habe ich nicht das Gefühl nur zuzuhören, sondern mich tatsächlich zu erinnern.«
Sie saß im Schatten des gewaltigen Feigenbaums. Die Herbstsonne zwängte sich zwischen den grünen Blättern hindurch und warf Lichtflecken auf ihre nackten Arme. Plötzlich erschien Mansûr. Milia durchlebte zu jener Zeit die Ängste, die einer ehelichen Bindung vorangehen. Als sie mit Nadschîb liiert war, hatte sie beschlossen, dass das Heiraten für sie der Moment sein sollte, in dem sie sich der Wahrheit stellt. Sie würde das Haus der Schmerzen verlassen, das ihre Mutter errichtet hatte. Sie würde aus dem Schatten der Nonne treten und sich von ihrer Familie lösen. Und dann würde eine neue Geschichte anfangen. Eine Geschichte, die nichts mit der Welt der Heiligen zu tun hätte. Nun aber sah sie sich einem Mann gegenüber, von dem sie nichts wusste. Nur, dass er sie liebte. Genügt es, dass man die Schwingungen der Liebe spürt, die jemand aussendet, um sich zu verlieben? Milia liebte Mansûrs Liebe. Sie war sich sicher, dass er sie schätzte. Dann kam jener Traum, der die Sache entschied. Mansûr würde ihr großer Traum sein. Sie würde ihre Geschichte mit ihm leben, so wie sie all ihre früheren Geschichten gelebt hatte.
Plötzlich erschien Mansûr. Wie aus dem Nichts aufgetaucht, stand er da und betrachtete sie. Wortlos beobachtete er einen Schweißtropfen, der ihr langsam aus der Achsel rann.
»Wann bist du gekommen?«, fragte sie.
. . .
»Was ist los? Warum antwortest du nicht?«
. . .
Sie stand auf, wollte ins Haus gehen. Da ertönte seine Stimme. Sie solle sich wieder auf den kleinen Basthocker unter dem Feigenbaum setzen, bat er.
»Steh nicht auf, bitte!«
»Was ist?«, fragte sie.
»Bleib sitzen. Ich will wissen, wohin dieser Tropfen rinnt«, sagte er und zeigte auf die Perle, die langsam aus ihrer Achselhöhle lief.
Gereizt schaute sie auf ihren Arm und wollte mit der Hand gerade den Schweiß wegwischen.
»Nein, nicht«, rief er.
Sie stand auf, wischte den Schweiß weg und ging ins Haus. Er folgte ihr.
»Du verstehst die Bedeutung von Liebe nicht«, sagte er.
»Was ist Liebe?«, fragte sie.
»Liebe ist, dass ich alles an dir mag, sogar deine Schweißperlen.«
»Das sind keine Perlen. Von Perlen spricht man nur bei Tränen.«
Wie das Gespräch weiterging, wusste Milia nicht mehr. Nun jedenfalls stand Mansûr da, tupfte ihr die Schweißperlen von den Armen, die durch die Schwangerschaft stark angeschwollen waren, und rief damit eine Geschichte wach. Eine Geschichte, die ihr entfallen war oder die vielleicht gar nicht stattgefunden hatte.
Sie wollte, so die Geschichte, ins Haus gehen. Da packte er sie am Handgelenk. Während sie sich seinem Griff entwand, fiel sie ihm in die Arme. Er beugte sich herab, wollte ihren Arm küssen und merkte, dass sie zitterte. »Wie ein Vogel.«
»Du sollst nicht ›wie ein Vogel‹ sagen. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich Gleichnisse nicht mag. Gleichnisse stimmen nicht. Keine Sache gleicht einer anderen. Das ist der Grund, warum ich dich nicht verstehe.«
Milia erinnerte sich deutlich, dass er sie gefragt hatte, woran sie dachte, und sie darauf ein »nichts« erwiderte. Da er aber auf eine »richtige Antwort« drang, sah sie sich gezwungen, irgendeine Geschichte zu erzählen. So war es immer. Wann immer sie vor sich hin träumte, wollte er wissen, was ihr durch den Kopf ging, und wurde, wenn sie schwieg, ungehalten. Also sagte sie, um ihn zu besänftigen, das, was ihr spontan in den Sinn kam.
An jenem Tag fiel ihr der Besuch in der Sankt-Elias-Grotte ein. Dort, so erzählte sie, habe sie innere Ruhe gefunden, kaum dass der Priester ihr das Eisentor aufgeschlossen hatte und sie eingetreten war. In der Grotte, die so klein war, dass nur eine Person hineinpasste, habe sie sich hingelegt, und zwar genau dorthin, wo der Prophet Elias auf der Flucht vor Isabel und Isabels Mann König Ahab geschlafen hatte. Währenddessen habe Schwester Mîlâna draußen gestanden, Weihrauch verbrannt und gebetet.
Mansûr hörte sich die Geschichte an.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er schließlich. »Ich spreche von Liebe, und du
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