Als schliefe sie
zu mir hat keiner so gesprochen. Du hast mir gesagt, dass du schwanger bist. Und das war’s.«
»Aber ich habe im Traum gesehen, dass ich schwanger bin…« Milia brachte den Satz nicht zu Ende, weil sie glaubte, Mansûr würde sie für verrückt erklären. Wie hätte sie ihm den Traum mit dem Kind offenbaren sollen. Offenbaren sollen, dass sie eines genau wisse, nämlich, dass sie nicht in Nazareth gebären würde, sondern dass er sie nach Bethlehem bringen müsste – genau wie Josef seine Frau.
In jener Nacht brach sie den Traum mittendrin ab. Mansûr steht in der Küche am Fenster und schaut hinaus. Sie sieht ihn von hinten. Ihr Blick fällt auf seine Glatze, und ihr wird bange. Mansûr hatte eigentlich dichtes Haar. Außerdem hatte in seiner Familie, wie sie von ihm wusste, keiner eine Glatze. Er sieht aus wie der Fahrer, der sie nach Schtûra gefahren hat. Deshalb hält sie ihn zuerst auch wirklich für den Fahrer. Sie sieht, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellt und die Glatze betrachtet. Was hat der Fahrer hier zu suchen, fragt sie sich. Dann hört sie seine Stimme. Es ist Mansûrs Stimme. »Auch du hast dich sehr verändert«, sagt er. »Du kommst mir so fremd vor. Warum bist du so geworden? Du siehst aus, als hättest du dein Gesicht verschleiert.«
Sie gibt keine Antwort. Ein Kälteschauer erfasst sie. Sie beschließt, den Traum zu beenden. Dass ihr Mann keine Haare mehr hat, bedeutet nur eines – Tod. »Wenn man träumt, dass einem die Haare ausfallen, muss man ›Gott steh uns bei‹ rufen. Denn das heißt, dass jemand sterben wird«, hatte ihre Großmutter Malika einmal gesagt. »In der Nacht, in der Mitri starb, habe ich geträumt, dass mir die Haare büschelweise ausfallen, bis ich am Ende eine Glatze hatte. Ich habe geschrien. Und das war der Todesschrei des Jungen.«
Milia riss die Augen auf, sah, dass sie nicht zugedeckt war. Sie zog sich eine Wolldecke über den Körper, bat den Traum aufzuhören und schlief weiter. Erneut sah sie ihn. Am gleichen Ort. Seine Glatze ist voll weißer Schuppen. Sie hört seine Stimme. »Du kommst mir so fremd vor.« Milia riss die Augen wieder auf. Sie wusste, dass sie nicht mehr einschlafen durfte. Wiederholte sich ein Traum nämlich drei Mal, dann würde er wahr werden. Sie beschloss aufzustehen, in die Küche zu gehen und sich einen Anistee zu bereiten. Von klein auf mochte sie Anistee. Ihr Vater hatte sonntags immer Anistee mit Zucker zubereitet und abkühlen lassen. Wenn sich die Familie mittags versammelte und rohe Kubba aß, genehmigte er sich ein Glas Arrak und schenkte jedem Kind ein Glas »Kinderarrak« ein, wie er den kalten Anistee nannte. Er mit seinem weißen und die Kleinen mit ihrem gelben Getränk prosteten sich zu und tranken. Später fanden die Kinder heraus, dass Arrak nach Anis schmeckt. Seither tranken sie Arrak, hergestellt aus Trester und Anis, zum Gedenken an ihren Vater. Milia wollte zu Beginn der Beziehung auf Arrak verzichten und Mansûr beim Trinken lieber mit kaltem Anistee Gesellschaft leisten. Er aber weigerte sich, dieses Spiel mitzuspielen. »Ich soll also trinken, während du mir dabei zuschaust? Nein, das mache ich nicht mit.« Dass Anis gewisse Vorzüge hat, erkannte er erst an, als Milia schwanger war und der italienische Arzt ihn darüber aufklärte, dass Alkohol dem ungeborenen Kind schade. So wandte sich Milia wieder dem »Kinderarrak« zu.
In jener Nacht ging sie in die Küche, um heißen Anistee zu trinken. Denn nur heißer Anistee vermag die Seele wiederzubeleben. In Nazareth hatte sie gelernt, Tee statt Kaffee zu trinken. Trotzdem blieb Tee für sie in erster Linie ein Heilmittel gegen Schnupfen und Fieber.
»Wer tauscht schon arabischen Kaffee gegen Tee ein? Aber so sind wir eben«, sagte Mansur und erklärte, dass das Teetrinken auf die Einflüsse des britischen Kolonialismus zurückzuführen sei. »Das war der Beginn der Niederlage. Wir gaben unseren Kaffee für ihren Tee auf. Wusstest du eigentlich, dass die alten Araber Wein auch als ›qahwa‹ bezeichneten? Und später, als der Kaffee zu ihnen gelangte und sich bei ihnen einbürgerte, nannten sie ihn ›qahwa‹, aber auch ›khamr‹, also Wein. Denn sie betrachteten ihn als geistiges Getränk. Dann lernten wir den Tee kennen, machten ihn zum festen Bestandteil unseres Alltags und halten ihn inzwischen für ein palästinensisches Nationalgetränk. Geschichte ist eine große Lüge. Und weißt du, dass Arrak ursprünglich türkisch und nicht arabisch ist?
Weitere Kostenlose Bücher