Als schliefe sie
Du denkst bestimmt, Arrak sei unser Nationalgetränk. Hier am östlichen Mittelmeere glauben das alle. Aber Arrak ist nicht arabisch. In all den Weingedichten ist nie die Rede von Arrak. ›Khamr‹ heißt Wein. Aber wir, einfältig wie wir sind, haben das vergessen und tun so, als hätten wir den Arrak erfunden.«
Milia machte nicht Licht, als sie in die Küche kam. Es war eine helle Nacht. Sie stellte den Wasserkessel auf den Herd und wartete. Das Wasser aber wollte nicht heiß werden. In der Küche war alles seltsam. Das Mondlicht, das zum Fenster hereinschien und das Spülbecken silbern einspann, die gestreiften Fliesen, die zu leuchten schienen, der blau angelaufene Anis, das ohrenbetäubende Zirpen der Zikaden. Milia hielt sich die Ohren zu, um sie vor dem Lärm zu schützen. Da sah sie ihn. Wie aus dem Nichts aufgetaucht stand Mansûr da. Am Fenster mit dem Rücken zu ihr.
»Ich mache Anistee. Willst du auch eine Tasse?«, fragte sie.
Dann sah sie die Glatze. Vor Schreck bekam sie weiche Knie.
»Auch du hast dich verändert«, sagte Mansûr.
»Heiliges Kreuz! Allmächtiger!«, rief Milia.
Sie lag im Bett, eingehüllt in ihre Decke, um sie herum alles dunkel.
Glockengeläut. Wo kommt das Glockengeläut her? Warum bindet keiner den Toten vom Glockenseil los?
Mitri hebt sie auf den Arm und steigt mit ihr in sein Foto an der Wand. Er ist groß, dunkel und hat muskulöse Arme. So stellte sie sich ihn vor. Und so erschien er ihr in dem Traum mit Rohrstock und labnabestrichener Fladenrolle. In Wirklichkeit aber sah er nicht so aus.
Ihren Sohn, der nicht ihrem Bauch entsprungen war, beschrieb Malika als dünn und hellhäutig. Er habe seinen Tarbûsch schräg nach vorn gekippt getragen und immer einen Rohrstock bei sich gehabt. Hier aber ist er groß, dunkel, und über dem weißen Gewand trägt er eine dunkle abâja. Die Arme vom Körper gespreizt, hält er in der rechten Hand einen Rohrstock und umfasst mit der linken die Taille des kleinen Mädchens.
»Lass mich los! Bitte! Ich bringe dir gleich das Labna-Brot. Ich will nicht mit ins Bild. Mir reicht schon das eine Foto.«
»Nein«, brüllte sie und riss die Augen auf. Krankenhausgeruch stieg ihr in die Nase. Sie sah Mansûr. Er stand neben ihr, versuchte, ihre Hand zu halten.
»Du schwitzt entsetzlich. Bitte beruhige dich. Alles wird gut gehen«, sagte er und tupfte ihr mit einem kleinen Handtuch die glitzernden Schweißperlen von Stirn und Händen.
Milia lächelte, sah ihn. Er trank Arrak und rezitierte ein Gedicht. Es herrschte brütende Julihitze.
»Wer wird denn bei solchen Temperaturen Arrak trinken?«, bemerkte sie.
»Hör dir das an«, sagte er. »Der schönste Vers, den der Verlorene König 3 je gedichtet hat:
Du hast mein Herz zerrissen, nun liegt
eine Hälfte tot da und in Eisenketten die andere.«
»Das ist nicht schön«, kommentierte Milia. »Ich mag es nicht, wenn über den Tod so gesprochen wird, als wäre Tod ein Wort wie jedes andere. Nein, das ist es gewiss nicht. Worte sind tödlich. Deshalb darf man nicht einfach drauflosreden. Ich mag auch keine Metaphern und Gleichnisse mehr. Dichter stellen sich etwas vor, und anschließend vergessen sie alles wieder. Und du rezitierst ihre Worte und schläfst kurz darauf wie ein Toter…«
»Nein. Du vergisst einen wesentlichen Punkt. Bevor ich schlafe, lodere ich…«
»Du hast wohl immer nur das Eine im Sinn! Ich meine es ernst. Du und die Dichter, ihr vergesst, was ihr gesagt habt, und schlaft selig. Ich dagegen sehe das Ganze im Traum und kriege Beklemmungen. Was für ein Unsinn! Stell dir vor, das alles würde wahr werden. Würden die Leute tatsächlich so leben, wie in den Romanen und Gedichten geschrieben steht, dann wären alle bestimmt schon längst dem Wahnsinn verfallen. Was soll dieser Unsinn also? Nein, das ist nicht schön.«
»Dafür bist du schön, meine Schöne«, sagte er und näherte sich ihr, in der Hand ein Taschentuch, um die glitzernden Schweißperlen aufzutupfen, die aus ihrer nackten Achselhöhle rannen.
»Weißt du noch?«, fragte er.
Sie bejahte, damit er nicht weitersprach. Bejahte, um den endlosen Schwall von Erinnerungen an jene Beiruter Leidenschaft zu dämmen, die sie ausschließlich durch seine Worte erfahren hatte. Zu dem Liebes-Mythos, den Mansûr beharrlich zu schaffen suchte, konnte sie nichts beitragen. Sie glaube seinen Erinnerungen, sagte sie. »Also… ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es ist wie mit meiner Mutter, wenn sie
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