Als schliefe sie
hinaufgekommen war, um die Rückreise nach Beirut anzutreten, daran konnte sie sich allerdings nicht erinnern. Die Nonne habe sie tragen müssen, erfuhr sie von dieser, weil sie beim Aufstieg schrecklich gekeucht und gehustet habe. Milia aber wusste von alldem nichts mehr.
Sie sah einen Mann. Er schloss das Tor zur Grotte auf und sagte zu Schwester Mîlâna, dass er das nur ihr zuliebe tue. Denn Seine Exzellenz, der Bischof, habe angeordnet, niemandem Einlass zu gewähren.
»Geh hinein«, sagte die Nonne.
Milia trat zögernd ein. Sie bückte sich und kroch auf allen vieren vorwärts. Dann sah sie ihn. Gesicht und Brust von einem langen weißen Bart völlig zugewuchert, stand er vor ihr, um ihn herum Feuer. Sie wich vor den Flammen zurück. In dem Augenblick ertönte die Stimme der Nonne, befahl ihr zu bleiben, wo sie war.
»Leg dich dahin, wo er geschlafen hat.«
Milia legte sich auf den Rücken und sah. Der Mann dreht sich um, schlägt mit dem Gewand an den Felsen und geht. Der Felsen springt entzwei, Wasser schießt heraus. Das Wasser löscht das Feuer. Milia liegt im Wasser. Angenehm kühle Luft umspielt sie. Der alte Mann hebt ab, steigt auf. Sie greift nach seinem Gewand. Doch sie bekommt das flatternde Gewand nicht zu fassen.
Der alte Mann war verschwunden. Angst erfasste sie. Sie schaute zu der Tür, durch die sie hereingekommen war. Sie war verschlossen. Und die Nonne war fort.
»Wie konntest du nur einschlafen? Du hättest beten müssen. Sankt Elias hätte deine Stimme hören sollen, hätte hören sollen, dass du ihm dankst. Aus diesem Grund haben wir dich doch hineingeschickt. Denn hier hat er geschlafen, als er vor dem König auf der Flucht war. Hierher kam ein Vogel vom Himmel mit Essen für ihn. Und du schläfst einfach ein, statt zu beten! Allmächtiger!«
Sie habe nicht geschlafen, wollte Milia der Nonne sagen. Sie habe gesehen, wie das Wasser aus dem Felsen schoss und unzählige Vögel die Flügel ausbreiteten, um den alten Mann zu tragen und mit ihm aufzufliegen, wollte sie sagen. Sie sei ganz und gar von Weihrauchduft erfüllt gewesen und habe sich zu einer anderen Welt gehörig gefühlt. Richtig, sie hatte in der Höhle die Augen geschlossen. Aber nicht, um zu schlafen, sondern um zu sehen. Und das war ihr gelungen. Sie wollte dem Propheten des Feuers eines sagen. Und das hatte sie auch getan. Sie möchte ein Junge sein, hatte sie gesagt. Das wünschten sich alle Mädchen, hatte der Prophet entnervt gemurmelt. Denn sie seien unwissend. Wüssten die Menschen nämlich Bescheid, dann würden sich alle wünschen, Frauen zu sein, hatte er gesagt und ihr von den beiden Marias erzählt, Maria Magdalena und der Jungfrau Maria. Jede Frau habe, so seine Worte, die Möglichkeit, die eine oder die andere Maria zu sein. Nur den Frauen seien die beiden vollkommenen Gefühle, Liebe und Mutterschaft, vergönnt. »Und du, Milia, wirst beide erleben. Fürchte dich nicht.«
Wer Maria Magdalena sei, erkundigte sich Milia. Schwester Mîlâna wandte das Gesicht ab, schien die Frage nicht gehört zu haben. Japsend und prustend schleppte sie Milia die lange Steintreppe hinauf.
Woran sie denke, wollte Mansûr wissen. Da erzählte sie ihm von dem Besuch in der Sankt-Elias-Grotte in Saidnâja und fragte, was die Worte, die sie dort gehört hatte, wohl bedeuten könnten.
»Sankt Elias hat zu dir gesagt, dass du beide Marias sein wirst?«
»Das habe ich ihn sagen hören.«
»Gott bewahre uns«, sagte er.
»Wovor?«, fragte sie.
»Vor den Frauen«, antwortete er.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie.
»Ich auch nicht«, sagte er.
Sie hatte nichts verstanden. Nun aber lag sie auf dem Halbbett, und Mansûr stand neben ihr.
Sie sehe Vögel auf dem Kirchdach, hatte sie gesagt. Da sei auch die Glocke. Die Glocke, an der Mitris langer, dünner Hals hing. Um die Glocke herum schwirrten die Vögel des Sankt Elias. Die Nonne irre sich, hatte Milia ihrer Mutter erklärt. Die Vögel hätten Sankt Elias davongetragen. Sie habe es genau beobachtet. »Schau, die Ikone, Mutter. Das sind keine Feuerpferde. Das sind Vögel.«
Woher kamen die Vögel? Hatten sie die Glocken zum Läuten gebracht?
Sie verabscheue Glockengeläut, und sie verabscheue Vögel, wollte sie sagen. Sie vermisse die Poesie, wollte sie außerdem sagen. Warum rezitierte Mansûr keine Gedichte mehr? Sie habe ihre Einstellung geändert, wollte sie sagen. Sie finde inzwischen Gefallen an Gleichnissen und Metaphern. Menschen sollten lieber dem Wort lauschen als
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