Als schliefe sie
sieht, wie ihm die Zähne ausfallen. Er hat Gräten im Mund, denkt er zuerst. Er beugt sich über den Teller und spuckt. Die Wangen fühlen sich an, als würden sie zusammenkleben. Sein Mund ist nur noch ein offenes Loch. Dann sieht er es. Er schaut auf den Teller und sieht, wie all seine Zähne ausfallen. Er hebt die Hand, fängt die Zähne auf, steckt sie zurück in den Mund. Er hat Schmerzen. Sein Mund ist ein einziger Schmerzklumpen. Er will schreien. Er schaut auf den See, will Milia sagen, dass er entsetzliche Schmerzen hat. Aber der See ist fort. Die Wellen sind verschwunden. Um ihn herum nichts als Dunkel. Alles ist vom Dunkel der Nacht umhüllt. Die Nacht klebt an seinem Körper. Er versucht die Augen zu öffnen. Es gelingt ihm nicht. Seine Augen sind wie mit Wachs versiegelt. Weihrauchduft steigt ihm in die Nase. Der Mann schreckt hoch, zeichnet sich ein Kreuz auf die Stirn. Er steigt aus dem Bett, geht, wie früher als kleiner Junge, auf Zehenspitzen zu seiner Schwester und schlüpft zu ihr ins Bett.
»Hab keine Angst, mein Liebling. Ich bin bei dir.«
Sie will ihrem Bruder erzählen, dass Tanjûs verschwunden ist. Stimmt es, dass der libanesische Mönch tot bei der Jungfrauenquelle aufgefunden wurde?
Sie fragte Mansûr nach Einzelheiten. Doch der leugnete, Kenntnis von der Sache zu haben.
»Das hast du mir doch erzählt.«
»Ich?«
»Gestern hast du erzählt, dass man seinen Leichnam gefunden hat und nicht weiß, was man mit ihm machen soll. Wie gekreuzigt lag er da. Man hatte ihm in den Mund geschossen und seine Arme auf dem Boden ausgestreckt. Die französische Nonne, die das Kloster führt, hat beschlossen, die Sache zu vertuschen. Sie wickelte den Mönch in ein weißes Tuch, sagte, dass er im Libanon beerdigt werden würde, und ordnete absolutes Stillschweigen an.«
»Ich?«
»Selbstverständlich du. Schließlich sehe ich in diesem Land niemanden außer dir.«
»Ich habe dir immer gesagt, dass wir nach Jaffa gehen sollen. Dort haben wir eine große Familie. Aber du willst ja unbedingt hier bleiben, bis das Kind geboren ist. Und da warte ich also. Erzähl mir jetzt nicht, dass du hier keinen Menschen siehst. Schließlich wolltest du es so!«, erwiderte Mansûr.
»Aber darum geht es doch nicht«, sagte sie.
Sie will zu Mûsa, will ihm die Zähne zurück in den Mund stecken. Milia weiß es. Von ihrer Großmutter Malika weiß sie, dass zwei Träume den Tod ankündigen. Haare schneiden und Zahnausfall. Alle anderen Träume, so Malikas Worte, seien Reisen. »Reisen, die der Mensch in ferne Welten unternimmt, weil die Seele nicht gern im Körper weilt. Sobald der Körper schläft, macht sich die Seele auf. Und wenn sie zurückkehrt, leicht und beschwingt von all ihren Erlebnissen, fällt der Körper prügelnd über sie her. Der Schlaf gleicht einem Ring, in dem Seele und Körper ihren Kampf austragen. Der Mensch spürt seine Seele im Wachzustand nicht. Erst wenn der Engel des Schlafs ihn besucht und seine Seele über Zeit und Ort schwebt, erkennt er, dass er aus zwei Teilen besteht, die durch den Willen des Allmächtigen eine Verbindung eingegangen sind. Und genau darin besteht das Wunder. Wie könnten Wasser und Feuer sonst eine Verbindung eingehen? Der Mensch ist eine Verbindung aus zwei Elementen, die nichts verbindet: Erde und Luft. Der Körper besteht aus Erde und die Seele aus Luft. Wie erhaben die Seele ist, spürt der Mensch nur im Traum. Wenn sie, auf Reisen, die Erde auf sich warten lässt, wird dem Menschen die geheime Bedeutung des Lebens klar. Wenn die Seele sich darin übt, den Körper zu verlassen, und erkennt, dass sie ihr eigenes Leben hat.«
»Heißt das, dass ich zwei Dinge bin, Oma?«, fragte Milia verängstigt.
»Selbstverständlich, mein Kind. Hast du nicht von deiner Tante Salma geträumt, bevor sie starb? Hast du nicht gesehen, wie sie träumte, dass sie fliegt?«
»Ich?«
»Aus diesem Grund ist deine Tante nicht wirklich tot. Ihre Seele hat begriffen, dass der Körper entbehrlich ist. Der Körper aber kann das nicht erfassen. Deshalb macht er Schwierigkeiten und schmerzt. Er schmerzt, damit die Seele leidet und es nicht wagt, ihn zu verlassen. Arme Salma, sie hat schrecklich gelitten. Erinnerst du dich noch, Milia, wie sehr deine Tante gelitten hat?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete das Mädchen zitternd. Milia hatte das Gefühl, ihre Seele würde gleich aus dem Körper fahren, und bekam Angst. Sie betrachtete ihre Augen im Spiegel des kleinen Beckens im Garten, wo
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