Als schliefe sie
sie planschend viel Zeit zubrachte. Gern hätte sie von ihrer Großmutter erfahren, ob die Augen Teil des Körpers oder der Seele sind.
»Die Augen sind Teil der Seele«, erklärte die Nonne. »Schau dem heiligen Elias in die Augen, und du wirst sehen, dass sie Feuer sprühen. Wie konntest du nur, Mädchen? Wie konntest du einschlafen? Ich habe dich zur Sankt-Elias-Grotte gebracht, damit du ihn siehst und er dich sieht. So hätte er dich für immer in Erinnerung behalten, dich nie vergessen. Ich werde irgendwann sterben, mein Kind. Ich kann nicht immer die Vermittlerin zwischen dir und ihm spielen. Du musst ihm tief in die Augen schauen und ihm sagen, dass du ihn liebst.«
Die Augen des unsterblichen Propheten waren aus ihren Höhlen getreten und hatten sich an den Felsen geheftet. Milia sah seine Augenlichter. Überall blitzten sie in der kreisrunden Grotte, die so klein war, dass nur ein Mensch ausgestreckt liegend hineinpasste. Aufrecht konnte der Prophet darin nicht stehen. Deshalb muss er wohl, um seinen Kopf auf den Stein zu betten, der ihm als Kissen diente, auf allen vieren hineingekrabbelt sein. Seine Augen waren aus der rotblauen, neben dem Steinkissen aufgestellten Ikone getreten und überall in der Grotte zu sehen. Milia fürchtete sich vor seinen vielen Augen. Sie wollte ihm dafür danken, dass er sie von der Krankheit geheilt hatte. Wollte ihm sagen, dass sie ihn niemals vergessen würde. Doch plötzlich hatte sie den Adler vor sich. Wie war er durch das kleine Loch in der Decke hindurchgekommen? Milia hatte ihn schon vorher gesehen. Auf einmal waren ihre Augen in der Lage gewesen, den Fels zu durchdringen und die Weiten dahinter zu ergründen. Mit ausgebreiteten Flügeln die vereinzelten Wolken am Himmel streifend, war der Adler hoch oben Runde um Runde gekreist und hatte nach der Öffnung gespäht. Dann hatte er unvermittelt die Flügel angelegt und sich fallen lassen. Er solle die Flügel aufspannen, schrie Milia. »Du stirbst sonst! Stirb nicht, bitte! Wer soll dann dem heiligen Elias das Essen bringen?« Der Adler hatte nicht auf sie gehört. Senkrecht, wie im Todessturz, fiel er. Kurz vor der Öffnung war er auf Faustgröße zusammengeschrumpft und durch das Loch hereingeschlüpft. Nun in der Grotte vor ihr breitete er die gewaltigen Flügel aus und schlug damit gegen die Wände, wie um sie auseinanderzuschieben und mehr Platz zu schaffen. Milia hockte zusammengekauert auf Sankt Elias’ Schlaflager, unfähig sich zu bewegen. Sie fühlte sich unwiderstehlich von den Krallen des Adlers angezogen. Der Adler packte sie und flog mit ihr hinaus. Milia hoch oben in der Luft. Schwindel. Angst. Fernab sah sie das Gesicht ihrer Tante auftauchen. Weinend fragte Tante Salma nach Ibrâhîm Hanânîjja.
»Warum weinst du, Tante? Tote weinen nicht und dürfen auch nicht weinen.«
Was die Tante darauf sagte, hörte Milia nicht. Die Tante war verschwunden. Das kleine Mädchen sah sich selbst. Liegend. Auf dem breiten Bürgersteig vor der Verkündigungskirche in Nazareth. Der Bauch aufgedunsen. Die Arme wie gekreuzigt von sich gestreckt.
Sie sah die beiden. Sie standen vor ihr. Sie konnte die beiden nicht auseinanderhalten. Die heilige Nonne Hand in Hand mit Tanjûs. Wie zwei Greise mit zerfurchten Gesichtern. Sie hörte eine Stimme. Von weit her. Sie solle pressen, sagte die Stimme.
Eine Hand rüttelte an ihrer Schulter.
»Öffnen Sie die Augen, mein Kind! Pressen. Los, pressen. Halten Sie durch. Es fehlt nicht mehr viel.«
Milia öffnete langsam die Augen. Helles Licht. Strahlend durchflutete die Sonne den Raum. Es regnete nicht mehr. Die Sonne schien. Hinter dem Licht stand der alte italienische Arzt.
»Kommen Sie, mein Kind. Alles ist in Ordnung. Wir haben es gleich geschafft. Aber Sie müssen ein wenig mithelfen.«
Milia lächelte. Sie spürte, wie ihr eine der Schwestern mit einem Handtuch den kalten Schweiß von den Lidern wischte. Sie fragte nach Mansûr.
Mansûr stand neben ihr. Sie waren in der Eingangshalle des Masâbki-Hotels. An der Wand hingen lauter Fotos. Mansûr rief sie, wollte ihr ein Foto zeigen. Zu sehen war darauf Scheich Bischâra al-Khûri 8 , der Präsident der libanesischen Unabhängigkeit, und Dschamîl Mardam Bek 9 , der syrische Ministerpräsident. Die Bilder an der Wand, sagte Mansûr, erzählten in Kurzfassung die Geschichte Syriens, Libanons und Palästinas.
»Seltsam«, bemerkte er. »Offensichtlich hat unsere Geschichte keinen anderen Platz als diese Wand in einer
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