Als schliefe sie
war Milia.«
Mûsa betrachtete das Foto an der Wand, und sofort kamen ihm die Tränen.
»Warum weinst du, Mûsa, mein Kleiner?«, schrie Milia.
Die Frau auf dem Halbbett wimmerte. Die beiden Krankenschwestern standen bei ihr.
»So wird das nichts«, sagte der Arzt entnervt.
»Es gibt Schwierigkeiten«, sagte die eine Schwester.
»Die Frau ist ganz blau im Gesicht«, sagte die andere Schwester.
Der italienische Arzt ging ans Fenster, öffnete es und schnappte frische Luft.
»Was soll ich tun, Doktor?«, fragte die ältere Schwester.
»Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht«, sagte er, statt zu antworten, zu der jüngeren.
Sie ging zu ihm ans Fester. »Wie bitte? Was?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete er.
Der Arzt war, entgegen Mansûrs Annahme, kein Italiener. »Italiener« wurde er deshalb genannt, weil er in Italien studiert hatte und mit einer schönen Italienerin verheiratet heimkehrte, die in Nazareth allen den Kopf verdrehte. Rita galt in der kleinen Stadt mit den unzähligen Klöstern, Kirchen, Mönchen und Nonnen als Inbegriff der Schönheit. Zu dem Beinamen »Italiener« war Ghassân al-Hilu also durch seine Frau gekommen, die eine eigenartige Person war. Sommers wie winters zog sie mit weißem Sonnenschirm durch Nazareths Gassen und wünschte sich sehnlichst schwanger zu werden. Nachdem die Schwangerschaft bei ihr vier Jahre lang ausgeblieben war, ging sie im fünften Jahr in ihre Heimat zurück. Dr. Ghassân gestand sich nicht ein, dass seine Frau für immer fort war, sondern glaubte, sie sei zu Besuch bei ihren Eltern und komme in einer Woche wieder. Beharrlich wartete er auf sie. Zumindest glaubten das alle. Obwohl mittlerweile Monate und Jahre ins Land gezogen waren, blieb er dabei. Wann immer sich jemand nach seiner italienischen Frau erkundigte, gab er die gleiche Antwort. Sie besuche ihre kranke Mutter. Und nun zog Dr. Ghassân selbst mit Ritas weißem Sonnenschirm durch die Stadt, sprach eine Mischung aus Arabisch und Italienisch und ging seiner Arbeit als erster Gynäkologe in Nazareth nach.
Dr. Ghassân beugte sich zu der jungen Krankenschwester hinab, die Milia Wadî’a II nannte. Abgestoßen von seinem Atem, der nach Zigarettenrauch roch, drehte sie unwillkürlich das Gesicht weg. Wieder zu ihm gewandt, hob sie den Zeigefinger und wollte ihn gerade ermahnen, das Rauchen aufzugeben. Doch da kam ein Wimmern von Milia. Sie eilte zu der Schwangeren, beugte sich über sie und hörte, dass sie vom Weinen sprach.
»Was ist nur los, Herr Doktor?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Seltsam. Dabei ist alles völlig normal. Sie scheint Angst zu haben.«
»Nun kommen Sie, meine Liebe, Sie haben es fast überstanden«, spornte die Schwester Milia an.
Milias Wimpern öffneten sich einen Spalt breit. Eine Träne hing im Winkel ihres linken Auges.
»Weine nicht, mein kleiner Mûsa«, sagte sie. »Das ist nur ein Traum. Sobald du die Augen öffnest, ist alles wieder an seinem gewohnten Platz, und du wirst sehen, dass hier nichts bedrohlich ist.«
Mûsa aber öffnete die Augen nicht. Der kleine Junge wälzte sich unruhig im Bett neben seiner Schwester. Die Träume umflatterten seine Augen. Sie hatte ihn durch die Dunkelheit in den Lîwân schlurfen sehen. Barfuß und den Oberkörper seltsam vorwärts schiebend, kam er zu ihr. Sein gestreifter grüner Schlafanzug glänzte im silbernen Mondlicht, das durch das Fester hereinschien. Milia machte ihm Platz im Bett. Sie streckte den rechten Arm aus, damit er den Kopf darauf legte. Er aber ließ sich daneben nieder, rollte sich zusammen und schlief ein. Milia zog den Arm ein, drehte sich auf die linke Seite, schloss die Augen und sah sich in den Traum des Bruders tauchen.
Mûsa saß im Garten des Hauses. Zigarettenrauch in die Luft blasend, dachte er über die Geschichte nach, die er keinem so richtig erzählen konnte. Nach seiner Rückkehr aus Tiberias wusste er nichts mit seinem Leben anzufangen. Saada jammerte unentwegt vor Schmerzen, musste sich aber, nachdem Milia nun verheiratet und nach Nazareth gezogen war, selbst um Haushalt und Familie kümmern. Salîm lebte zusammen mit Nadschîb in Aleppo und genoss die Gastfreundschaft des Aleppiner Schreiners, der zwei Töchter auf einen Schlag losgeworden war. Nikola und Abdallah hatten das Geschäft des Vaters in eine Sargschreinerei umgewandelt und zwei Schwestern aus dem Hause Abu Lama geehelicht. Sie führten sich auf wie zwei einfältige Prinzen, weil sie in eine Familie
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