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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Khoury
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langem blauem Rock und weißem Hemd draußen und beobachtete, wie die Bäume ihre Blätter ließen.
    »Du bist es!«, drang ihr seine Stimme ans Ohr.
    »Ich soll wer sein?«, fragte sie.
    »Du weißt schon«, sagte er.
    »Ich?«
    »Ich liebe dich«, sagte er.
    »Weshalb?«, fragte sie.
    »Ich liebe dich, und ich will dich.«
    »Mich?«
    Milia hüllte sich in ihr Weiß und verschwand ins Haus. So sollte Mansûr die Situation später beschreiben. Sie habe sich in ihr Weiß gehüllt, sei darin verschwunden, sagte er. Zustimmend senkte sie den Kopf.
    Auf dem Weg ins alte Haus spürte sie seine Augen regelrecht auf Nacken und Schultern. Schmerzhaft wie Nägel bohrten sie sich ihr ins Fleisch. Schwer getroffen fuhr Mûsa sie an, als er erfuhr, dass sie sich auf den Fremden eingelassen hatte, ohne ihn einzuweihen. Sie aber hatte nichts zu ihrer Verteidigung vorzubringen. Stattdessen griff sie sich an den Nacken, um die Nägel herauszuziehen, und willigte ein.
    Mansûr schlief. Milia versuchte zu schlafen. Sie schloss die Augen. Es zuckt in ihrer linken Fußsohle. Sie rutscht von der Leiter ab. Sie soll sich nicht fürchten, sagt Mûsa. Eine lange Holzleiter. Unten sind Strand und Meer. Alles schimmert hellblau. Milia steigt die Leiter hoch. Schwester Mîlâna steht unten und rüttelt an der Leiter. Milia steht weit oben auf der wankenden Leiter. Sie klammert sich an die Sprosse über ihr, versucht weiterzuklettern. Sie wirft einen Blick in die Tiefe, sieht Wellen und Gischt. Plötzlich verliert sie den Halt, fällt hinunter, wirbelt akrobatisch durch die Luft. Kopfunter schlägt sie auf die Leiter auf, überschlägt sich. Sie fällt immer schneller. Die Leiter nimmt kein Ende. Die Nonne tritt aus dem Bild. Mûsa streckt die Arme aus, um sie aufzufangen. Er stürzt ins Wasser, wird von den Wellen verschlungen. Milia steht auf einem Felsen im Meer. In ihren Shorts haben sich Algen verfangen. Salz brennt ihr in den Augen. Sie hält Ausschau nach ihrem Bruder, findet ihn nicht. Eine Hand schnellt auf sie zu, stößt sie ins Wasser. Sie geht unter, bekommt keine Luft mehr, erstickt. Sie öffnet die Augen, leckt sich das Salz von den Lippen. Um sie herum nur Dunkelheit.
    Milia setzte sich auf die Bettkante. Sie legte die Hand auf die Brust, um ihr Herz zu beruhigen. Das Herz pochte im ganzen Körper. Im Hals, in den Schläfen, in den Fußsohlen. Alles in ihr bebte.
    Warum diese Angst? Wovor hatte sie Angst?
    Ein flüchtiges Lächeln zog im Dunkeln über ihre Lippen. Das ist nur ein alter Traum, beruhigte sie sich. Der Traum hatte sie vor gut drei Jahren verlassen. An dem Tag, an dem sie Nadschîb Karam kennenlernte und glaubte, dass er sie von ihren Träumen erlösen und in die Wirklichkeit führen würde. Nadschîb aber verschwand aus ihrem Leben. Der Traum von der Leiter und dem Meer kehrte dennoch nicht zurück. Nun aber in Zimmer 10 im Masâbki-Hotel in Schtûra auf der Bettkante sitzend, stellte sie sich einige Fragen, deren Antwort sie kannte. Quälende Zweifel stiegen in ihr auf.
    »Ich bin im Traum hingefallen, und jetzt tut mir das Bein weh«, sagte Milia zu ihrer Mutter.
    »Hör auf mit diesem Altweibergewäsch. Du redest schon wie deine Großmutter!«, schimpfte die Mutter. »Du bist eine junge Frau. Mach dir lieber Gedanken, wie du einen geeigneten Bräutigam findest!«
    Die weiße Frau schrak hoch. Sie stand auf, hob das lange Nachthemd vom Boden auf und zog es an. Dann setzte sie sich auf die Bettkante. Wieder hörte sie die Stimme der Mutter, die rau, belegt vom vielen Schischa-Rauchen aus ihrer Kehle hallte. Diese Stimme sollte Milia in Nazareth stets begleiten. Und sollte das Letzte sein, was an ihr Ohr drang, bevor sie den Jungen vor ihrem Foto sitzen sah. Sah, wie er den klein in Naskhi-Schrift 7 unter dem Porträt stehenden Vers aus dem Evangelium abschrieb.
    Weshalb erschien ihr das Zimmer, in dem sie ihre Flitterwoche verbrachten, in dieser Weise?
    Er hatte ihr den Rücken gekehrt. Sie träumte mit offenen Augen einen Traum, der sich von all ihren bisherigen Träumen unterschied. Wo war der alte Traum hin?
    Milia lebte im Rhythmus ihrer Träume. Sie stand morgens auf, wischte sich die Träume von den Lidern und setzte die Geschichte fort. Nadschîb sitzt mit einer anderen Frau unter dem riesigen Feigenbaum im Garten ihres Beiruter Hauses. Sie selbst steht abseits, beobachtet, wie Nadschîb der Frau über das Haar streicht, sich zu ihr beugt und sie auf den Hals küsst. Kurz darauf sind beide

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